So will ich schweigen
Temperatursturz war wie ein Schock, und sie stand zitternd da und presste den Handrücken auf den Mund, damit ihr kein verräterischer Schluchzer entfuhr. Was war denn heute anders als gestern Abend? Sie hatte Eindruck auf Kit gemacht, da war sie sich ganz sicher, und das ungewohnte Gefühl der Macht war ihr zu Kopf gestiegen. Sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können, bei Leo damit anzugeben, obgleich sie wusste, wie unklug das war. Vom ersten Augenblick an waren die Spannungen zwischen den beiden Jungen mit Händen zu greifen gewesen.
Aber hinterher in der Kirche schien Kit sich wieder gefangen zu haben … vielleicht lag es ja nur an ihrer schrecklichen Familie und den Sachen, die heute passiert waren, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Oder vielleicht hatte sein
Vater sich ihn vorgeknöpft. Als ihr Onkel sie angeschaut hatte, war es ihr vorgekommen, als könne er durch sie hindurchsehen, und im Gegensatz zu Gemma hatte sein Blick nichts Verständnisvolles.
Der Trotz flammte in ihr auf. Leise öffnete sie die Wohnzimmertür und betrat den leeren Raum. Das Kaminfeuer war bis auf die Glut heruntergebrannt, und der Baum wirkte nackt ohne die vielen Pakete. Dieser lächerliche Weihnachtsrummel – das war doch alles nur ein einziger Schwindel. In Wirklichkeit interessierte sich doch jeder nur für sich selbst.
Sie ließ die Geschenke liegen und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Minenfeld aus Spielsachen, das Toby und Sam auf dem Teppich hinterlassen hatten, bis sie vor der Bar stand. Alles schien unberührt – sehr gut. Anscheinend hatte ihre Großmutter nach dem Essen nicht die Sherryflasche herumgehen lassen. Sie überprüfte den Pegelstand und kippte dann hastig ein, zwei Schlucke hinunter, während sie darüber nachdachte, was zu tun war. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Sich Mut antrinken, so nannte man das wohl. Nach einem weiteren Schluck verkorkte sie die Flasche und stellte sie vorsichtig auf ihren Platz zurück. »Simsalabim«, flüsterte sie. Erst war die Flasche weg, dann war sie wieder da – genau wie ihre Mutter. Wenn ihre Mutter einfach so ohne ein Wort der Erklärung verschwinden konnte, warum sollte sie es nicht genauso machen?
»Was machst du da?« Kits Stimme klang schärfer, als er beabsichtigt hatte. Seit sie mit den Großeltern hier angekommen war, hatte Lally sich ganz sonderbar benommen, und als er gesehen hatte, wie sie sich aus der Küche geschlichen hatte, war seine Unruhe gewachsen. Als sein Opa gerade mit Sam beschäftigt gewesen war, hatte er die Gelegenheit genutzt und war ihr nachgegangen. Er hatte sie in der Diele gefunden, wo
sie sich gerade ihre rosa Fleecejacke anzog. Beim Geräusch seiner Schritte war sie erstarrt wie ein aufgeschrecktes Kaninchen, doch als sie gesehen hatte, dass er es war, hatte sie sich entspannt und war in den anderen Jackenärmel geschlüpft.
»Ich geh raus«, antwortete sie kühl. »Das sieht man doch wohl.«
»Jetzt?« Kits Stimme quiekste bedenklich, und er räusperte sich, ehe er erneut ansetzte. »Wohin?«
»Seit wann geht dich das was an?«
Kit, der auf ihren aggressiven Ton nicht vorbereitet gewesen war, stammelte nur: »Weil du gar nicht Bescheid gesagt hast. Und weil es … schon dunkel ist.«
»Dunkel?«, echote Lally, und ihre Stimme triefte vor Hohn. »Willst du mir etwa sagen, ich dürfte im Dunkeln nicht aus dem Haus gehen, wie ein kleines Mädchen? Für wen hältst du dich eigentlich, dass du mich hier im Haus von meinen Großeltern rumkommandierst und mich wie Dreck behandelst?«
»Was?« Kit starrte sie vollkommen verständnislos an. »Aber ich würde doch nie … Ich hab doch nicht …«
»Das hast du sehr wohl, gerade eben in der Küche. Du hast mich angeschaut wie etwas, was dir an den Schuhen hängen geblieben ist!« Ihre Stimme wurde immer schriller.
»Lally, wovon redest du eigentlich?« Als Kit näher an sie herantrat, besorgt, dass jemand sie hören könnte, stieg ihm ein Hauch von Parfüm in die Nase. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und widerstand dem Drang, sie zu berühren. »Hör mal, du bist sicher durcheinander wegen dieser Sache mit deinen Eltern, aber ich würde nie …«
»Was ist mit meinen Eltern?« Sie sprach jetzt wieder leise, doch ihre Brust hob und senkte sich im schnellen Rhythmus ihres Atems, und er wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte.
»Nichts. Es ist nur so – ich habe gerade gehört, wie sie sich unterhalten haben, deine Mutter
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