Socrates - Der friedvolle Krieger
die Kinder. Anschließend drückte Benjamin Heschel eine Geige in die Hand, die dieser selbst gebaut hatte und Heschel begann zu spielen.
Sergej starrte seinen Großvater mit offenem Mund an. Es kam ihm vor, als wäre sein Großvater jetzt erst richtig zum Leben erwacht. Er war nicht länger ein einfacher Sterblicher, sondern der Schöpfer großer Musik, der sein Instrument zum Leben erweckte. Einen Augenblick lang erzählte die Geige von menschlicher Trauer, im nächsten Moment aber sang sie von himmlischen Freuden. Leja tanzte und drehte sich, während Awrom und Sergej sie mit Händeklatschen anfeuerten.
Als sein Großvater das Instrument schließlich niederlegte, war die ganze Hütte von Musik und Licht erfüllt. Dann entschuldigte sich Heschel mit einem Gähnen und zog sich zurück. Sergej legte sich mit den beiden anderen Kindern vor dem Herd zum Schlafen nieder. Zum zweiten Mal schlief er im Schoß einer Familie und träumte von Musik.
Am Sonntagmorgen verabschiedeten sie sich von ihren Gastgebern. Sergej nahm noch einmal alles in sich auf, um es sich unauslöschlich einzuprägen, damit ihn die Erinnerung später in der Schule am Leben erhalten würde. Er prägte sich Saras Gesicht und Stimme genau ein und Benjamins Lachen, Awroms Gesicht, das in einem Buch vergraben war, Leja, die am Feuer saß und ihrer Mutter dabei half, einen kleinen Strauß Winterblumen zu binden. Ob er wohl auch eines Tages ein Ehemann wie Benjamin Abramowitsch sein und eine Frau wie Sara und zwei eigene Kinder haben würde?
Bevor sie gingen, kniete Sara nieder und umarmte Sergej. Auch die kleine Leja umarmte ihn. Awrom und sein Vater schüttelten ihm die Hand. »Du bist hier jederzeit willkommen«, sagte Benjamin. »Ich sehe dich hoffentlich bald wieder«, sagte sein Sohn.
Heschel zog seinen dicken Wollmantel an und warf sich den Rucksack über die Schulter. Sergej tat es ihm gleich. Als er in das Gesicht seines Großvaters sah, wurde ihm auf einmal bewusst, dass auch dieser nach der langen Zeit in seiner leeren Wohnung Trost bei dieser Familie gefunden hatte. Sie winkten noch einmal, dann wanderten sie den Weg in den Wald entlang.
Das Körperliche vergisst man nur zu leicht. Man kann stunden- oder tagelang frieren, aber schon nach ein paar Minuten an einem warmen Feuer, erscheint die Kälte völlig unwirklich. Wie anders sind doch die Gefühle, die in der Erinnerung unauslöschliche Spuren hinterlassen. In den schweren Jahren, die auf diesen Tag folgen sollten, halfen die Erinnerungen an diese Familie, an das lodernde Feuer im Herd, an den köstlichen Geruch von frisch gebackenem Brot und an Awrom und Leja, Sergej alle Schwierigkeiten zu überstehen.
In den Messen, die Vater Georgi in der Kapelle der Anstalt abgehalten hatte, wurde oft von Himmel und Hölle gesprochen. Sergej hatte sich unter dem Himmel nie etwas vorstellen können, bis er diese zwei Tage mit seinem Großvater in der Hütte im Wald verbracht hatte.
Heschel und Sergej gingen in vollkommener Stille, die nur durch das gelegentliche Brechen eines weiß bedeckten Astes, dem Rauschen des Windes und dem Knirschen des Schnees unter ihren Füßen unterbrochen wurde, den Berg hinunter. Worte würden die Erinnerungen und Gefühle nur stören, die jeder für sich noch einmal durchlebte. Außerdem mussten sie sich auf jeden Schritt konzentrieren, denn der Abstieg war gefährlicher als der Aufstieg. Einmal rutsche Sergej aus und griff hilfesuchend nach der Hand seines Großvaters. Die Berührung spendete beiden Trost: Sie waren zwar allein, aber zumindest hatten sie einander.
Plötzlich sagte Heschel: »Du bist ein guter Junge, Socrates.«
»Und du bist ein guter Opa«, antwortete Sergej und als er den alten Mann lächeln sah, war er froh, dass er es gewagt hatte, dies zu sagen.
Dann kam die Anstalt in Sicht. Sergej sah seinen Großvater an und mit einem Mal wirkte dessen Gesicht erschöpft und müde und älter als je zuvor. Sergej ahnte, dass eine lange Reise vor seinem Großvater lag, an deren Ende eine leere Wohnung auf ihn warten würde, die nur von Erinnerungen bewohnt wurde. Er wollte mit seinem Großvater nach Sankt Petersburg gehen, aber er brachte nicht den Mut auf, dies auch zu sagen. Es war der Wille seines Vaters gewesen, dass er in einer Kadettenanstalt aufwachsen sollte. Und so sehr er es sich auch wünschte, man würde ihm nie erlauben, diese zu verlassen.
Dann waren sie am Haupttor angekommen. Sie standen lange da, während die Herbstsonne ihre Bahn
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