Socrates - Der friedvolle Krieger
zog. Schließlich ergriff Heschel das Wort: »Mein kleiner Socrates, ganz gleich, was die Jahre auch bringen mögen, denke immer daran, dass du nicht allein bist. Selbst in den schwersten Zeiten wirst du nicht allein sein. Die Seelen deiner Eltern und die deiner Großmutter Esther und deines Großvaters Heschel werden immer bei dir sein.«
Sergej starrte stumm auf seine Füße, während ihm allmählich die volle Bedeutung dieses Abschieds klar wurde. Ihn fror, als er plötzlich begriff, dass er seinen Großvater wahrscheinlich niemals mehr wiedersehen würde. Heschel beugte sich herab und strich Mantel und Bluse seines Enkels glatt. Dann zog er ihn an sich.
Sergej fürchtete schon, dass sich sein Großvater nun umdrehen und ihn verlassen würde, aber stattdessen lächelte der alte Mann und sagte: »Ich habe etwas für dich. Ein Geschenk von deinen Eltern.« Er griff in seine Manteltasche und nahm ein silbernes Kettchen heraus, an dem ein ovales Medaillon hing. Der Junge kniff die Augen zusammen, als ein Sonnenstrahl von der glatt polierten Oberfläche reflektiert wurde.
»Die Hebamme gab es mir, als sie dich zu uns brachte«, erklärte Heschel. »Dieses Medaillon hat deiner Mutter gehört. Es war ein Geschenk von deinem Vater. Die Hebamme sagte, dass du es haben solltest, wenn du alt genug wärst. Und jetzt bist du wohl alt genug.«
Damit drückte er die Kette und das Medaillon in Sergejs Hand. Sergej erschauerte: Dieses Medaillon hatte seine Mutter um den Hals getragen. Und nun gehörte es ihm.
»Mach es auf.«
Sergej starrte seinen Großvater verständnislos an.
»Gib her, ich zeig dir, wie man es macht.« Heschel öffnete den Verschluss und Sergej erblickte eine kleine Fotografie, auf der er zwei Menschen sah: eine Frau mit dunklem, gelocktem Haar und schneeweißer Haut und einen Mann mit hohen Wangenknochen, intensivem Blick und dunklem Bart.
»Sind das … Sind das meine Eltern?«
Sein Großvater nickte. »Ich glaube, es war ihr wertvollster Besitz und nun gehört es dir. Ich weiß, du wirst es immer in Ehren halten.«
»Das werde ich, Opa«, murmelte Sergej, der seinen Blick nicht von den Gesichtern seiner Eltern wenden konnte.
»Und nun hör mir gut zu, Socrates! Da ist noch etwas, das ich aber nicht mitbringen konnte. Es ist auch ein Geschenk für dich und es ist auf einer Wiese in der Nähe von Sankt Petersburg vergraben.«
Er griff wieder in seine Manteltasche und zog ein Blatt Papier hervor. Er strich es glatt, damit der Junge die Zeichnung sehen konnte. Auf dem Blatt war eine Karte, auf der neben einem Baum auf einer Wiese ein Kreuz markiert war. Die Wiese war auf drei Seiten von Wald umgeben und lag in der Nähe eines Flusses. Zudem waren auf der Karte noch andere Markierungen zu sehen.
»Erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir auf dem Weg zur Hütte erzählt habe? Die über meinen Lieblingsplatz im Wald nahe dem Fluss Newa, wo ich das Schwimmen gelernt habe? Hier ist er, etwas nördlich von Sankt Petersburg«, sagte er weiter und zeigte auf die Karte. »Und das ist die Stadt, hier sind die Docks und dort der Winterpalast. Wenn du dem Fluss zehn Kilometer weit nach Norden folgst, am Palast vorbei, aus der Stadt heraus und in den Wald, dann wirst du zu einer Lichtung kommen.«
Er drehte das Blatt um. Auf der Rückseite war eine detailliertere Zeichnung des Ufers und des Waldes. Heschel zeigte auf einen Baum und ein Kreuz. »Hier ist die Kiste vergraben, neben einem Baum direkt gegenüber vom Fluss. Du erkennst den Baum leicht. Es ist eine alleinstehende Zeder mitten auf einer Wiese. Der Baum wurde von meinem Großvater gepflanzt, als er noch ein Junge war. Zwischen zwei Wurzeln wirst du die Kiste finden.«
Heschel faltete das Blatt wieder zusammen und gab es Sergej. »Karten kann man verlieren oder sie können einem gestohlen werden, Socrates. Ich möchte, dass du sie dir genau einprägst. Dann zerstöre sie. Wirst du das tun?«
»Ja, Opa.«
Sie gingen auf das Tor zu. »Denk an das Geschenk, das auf dich wartet. Wenn du es findest, denke daran, wie sehr wir dich lieben.«
»Ich werde daran denken.«
Heschel sah zum Himmel und atmete tief ein, so wie er es tat, wenn er eine Geige oder eine Uhr fertiggestellt hatte und mit seinem Werk zufrieden war. »Es ist gut«, sagte er. »Es ist gut.« Dann senkte er den Blick. »Ich möchte, dass du weißt, mein lieber Socrates, dass es eine der größten Freuden meines ganzen Lebens war, diesen Sabbat mit dir zu feiern.«
Damit drehte er
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