Socrates - Der friedvolle Krieger
sich um und ging zurück. Dabei murmelte er: »Ja, Esther, ich weiß, alles wird gut.«
Sergej sah seinem Großvater nach, bis dieser immer kleiner wurde und schließlich ganz verschwunden war. Heschel war aus Sergejs Leben gegangen, aber nicht aus seiner Erinnerung.
4
N achdem er die Karte weggesteckt hatte, ging Sergej durch das Tor. Der wachhabende Kadett rief ihm zu: »Beeil dich, du kommst zu spät zum Gottesdienst.«
Sergej rannte durch die leeren Flure bis zu seiner Stube und warf den Rucksack in seinen Spind. Als er gerade gehen wollte, bemerkte er auf der Pritsche neben seiner, die vor einigen Wochen frei geworden war, einen Militärsack. Vermutlich gehörte er einem Neuankömmling.
Sergej steckte das Medaillon und die Karte in ein Loch in seiner Matratze, an den sichersten Ort, den er in der Eile finden konnte. Dann rannte er den Flur hinunter zur Kapelle. Als er an seinen Großvater dachte, der mit krummem Rücken langsam die Straße entlangwanderte, verlangsamte sich sein Schritt automatisch.
An der Tür angekommen, schlug er das Kreuz und bat Gott, seinen Großvater zu beschützen und ihm Kraft für seine Reise zu geben. Es war das erste Mal, dass er wirklich mit ganzem Herzen betete - so wie es Vater Georgi ihnen immer gesagt hatte. Vorher hatte er noch nie Grund dafür gehabt. Sergej hoffte, dass Gott sein Gebet erhören würde, obwohl Opa Heschel Jude war.
Als Sergej eilig den Mittelgang der Kapelle zu seinem Platz hinunterging, warfen ihm einige der Jungen Blicke zu: einige freundliche, weil sie sich freuten, ihn zu sehen, andere hämische, weil sie hofften, dass er für sein verspätetes Kommen bestraft werden würde. Sergej sah zu Vater Georgi auf, der in seiner schwarzen Robe vor dem erhöhten Altar mit den Ikonen von Christus, Maria mit dem Kind, dem Heiligen Michael, dem Heiligen Gabriel und dem Heiligen Georg, dem Schutzpatron ihrer Anstalt und Mütterchen Russlands, stand. Die Sonnenstrahlen, die durch die farbigen Butzenglasscheiben fielen, zauberten einen Regenbogen mitten in die Kapelle.
Gerade hatten die Jungen begonnen, eine Hymne zu singen. Sergej fand seinen Platz und begann ebenfalls zu singen, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Sowohl Vater Georgi als auch sein Großvater Heschel hatten von einem Gott gesprochen, den er nicht sehen konnte. Für Sergej war Gott eine Hütte im Wald und der Himmel bestand in einer mütterlichen Umarmung.
»Opa«, hatte er auf dem Rückweg zur Anstalt gefragt, »wie kommt man nach Ansicht der Juden in den Himmel?«
Heschel hatte gelächelt und geantwortet: »Ich kann nicht für alle Juden sprechen und ich bin auch nicht weise genug, um die Antwort zu kennen, kleiner Socrates, aber ich bin überzeugt, dass du deinen eigenen Weg finden wirst.«
Als der Gottesdienst vorbei war, schreckte Sergej aus seinen Gedanken auf und gliederte sich in die Reihe ein, in der die Kadetten aus der Kapelle hinausgingen. Dabei begegnete er auch dem Neuankömmling - groß, ernst, drei oder vier Jahre älter - zum ersten Mal. Sie gingen zufällig nebeneinander, als sie dem Ausgang zustrebten. Da immer nur eine Person durch die Tür gehen konnte, wollte Sergej beiseite treten und dem neuen Jungen höflich den Vortritt lassen, als dieser ihn einfach so brutal zur Seite drängte, dass Sergej fast zu Boden gestürzt wäre. Die Art dieser ersten Begegnung sollte bestimmend für ihre ganze kommende Beziehung sein.
Es stellte sich heraus, dass der Militärsack auf der Pritsche zwischen denen von Andrej und Sergej einem gewissen Dimitri Sakoljew gehörte. Von diesem Tag an lernte Sergej diesen Namen fürchten und verachten.
Es ging das Gerücht um, dass ein Mann Sakoljew am Haupttor abgeliefert, dem Wachposten einen Umschlag in die Hand gedrückt und nur gesagt habe: »Dies sollte als Bezahlung ausreichen.« Ohne ein weiteres Wort hatte sich der Mann umgedreht und war gegangen.
Da er bereits zwölf war, hätte Sakoljew eigentlich im oberen Stock bei den Elf- bis Vierzehnjährigen schlafen sollen. Aber dort war es aufgrund von Lausbefall der Matratzen zu einer vorübergehenden Bettenknappheit gekommen. Daher musste der neue Kadett die erste Woche im »Kinderzimmer« verbringen, wie er es nannte. Er ließ seine Wut darüber an allen aus, die ihm über den Weg liefen - besonders an Andrej und Sergej, da deren Pritschen seiner am nächsten waren.
Im Verlauf der nächsten Wochen erkämpfte sich Sakoljew seinen Platz in der Kadettenhierarchie und verdiente
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