Socrates - Der friedvolle Krieger
geht es dir gut?«
Heschel beschwichtigte den Jungen mit einer Handbewegung. »Ich war es, der den Kontakt abbrach. Ich behandelte meine eigene Tochter, als ob sie gestorben wäre.«
Er fing an, offen zu weinen, während die Worte nur so aus ihm hervorbrachen. »Ich erwarte nicht, dass du verstehen kannst, wie ich etwas so Schreckliches tun konnte, mein kleiner Socrates. Ich verstehe es selbst nicht. Aber aus meinem Mund kamen furchtbare Worte. Ich kehrte ihr den Rücken zu, weil ich glaubte, sie habe ihrem Volk den Rücken gekehrt. Ich konnte nicht anders. Deine Großmutter Esther hatte keine andere Wahl, als sich ebenso zu verhalten wie ich, obwohl es ihr das Herz brach.«
Heschel zwang sich weiter zu erzählen. »Deine Großmutter wollte unbedingt mit ihrer Tochter sprechen und sie noch einmal in die Arme schließen. Konnte sie denn wirklich glauben, ich hätte etwas anderes gewollt?«, sagte Heschel mehr zu sich selbst als zu Sergej. Seine Gedanken schweiften wieder in die Vergangenheit zurück. Er hatte völlig vergessen, dass er auf einem eiskalten Felsen mitten im Wald saß.
Als er wieder zu sprechen anfing, klang seine Stimme müde. »Als wir erfuhren, dass unser erstes Enkelkind geboren worden war - dein Bruder Sascha -, hatten Esther und ich einen furchtbaren Streit. Sie flehte mich an, sie zu ihrer Tochter gehen zu lassen, sie um Vergebung bitten zu dürfen und ihren Enkel zu sehen. Aber ich ließ sie nicht. Ich erlaubte meiner geliebten Esther nicht einmal, die Briefe unserer Tochter zu beantworten.«
»Wir haben den kleinen Sascha niemals gesehen«, fuhr er mit erschöpfter Stimme fort. »Wir erfuhren nur aus den Briefen deiner Mutter etwas über ihn. Die Briefe waren wie ein Schatz für uns, aber wir haben sie nie beantwortet. Ich brachte es nicht über mich, sie zu lesen, aber deine Großmutter erzählte mir alles, was darin stand. Wir sprachen nie wieder mit deiner Mutter, noch sahen wir sie jemals wieder. Nicht solange sie lebte.«
Heschel schnäuzte sich die Nase und wischte seine nassen Wangen mit dem Ärmel ab. Sergej hätte am liebsten auch geweint.
Als sie weitergingen, fielen die ersten Schneeflocken. Heschel nahm Sergejs Hand und sagte leise: »Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest, mein kleiner Socrates. Du Hebamme, die dich zu uns brachte, erzählte uns, dass deine Mutter dich noch eine Weile im Arm hatte, bevor sie starb.«
»Warum musste sie denn sterben, Opa?«
»Warum muss überhaupt irgendjemand sterben? Es ist nicht für uns bestimmt, dies zu wissen.« Er hielt einen Augenblick an, bückte sich und pflückte eine rote Blume aus dem Schnee.
»Deine Mutter war zerbrechlich und doch stark. So wie diese Blume, die im Winter blüht. Die Blume ist ganz und gar rein und unschuldig und doch habe ich sie gepflückt. Gott hat Natalja gepflückt, ihre Zeit war gekommen. Ich wünschte nur …«
Wieder zog sich Heschel in seine eigene Welt zurück und nach einer Weile nahm sein Gesicht einen friedlicheren Ausdruck an.
»Ja, Esther«, sagte er zu jemand, den Sergej nicht sehen konnte. »Ich weiß, alles wird gut.«
Dann legte er dem Jungen die Hand auf die Schulter und sie gingen schweigend weiter. Sergej dachte darüber nach, was ihm sein Großvater erzählt hatte: dass seine Mutter ihn vor ihrem Tod an ihr Herz gedrückt hatte. Und plötzlich war ihm nicht mehr gar so kalt.
Nun kannte er die Geschichte seiner Geburt und der Todesfälle, die sie begleitet hatten. Er spürte instinktiv, dass die Trauer seinen Großvater bis zu seinem Tod begleiten würde, wenn alle Sorgen endlich von ihm genommen werden würden. Jetzt freute er sich vor allem darüber, dass sich die Miene seines Großvaters aufgehellt hatte.
Nach einer Weile tauchte Heschel wieder aus seiner ganz persönlichen Welt auf und sagte: »So war das also, mein kleiner Socrates. Du hast deine Mutter und deinen Vater verloren, ich habe meine Frau und meine Tochter verloren. Jetzt haben wir nur noch uns. Sonst sind wir ganz allein.«
Sergej hoffte, dass er eines Tages seinen Eltern Ehre machen und seinen Platz in der Welt finden möge, damit diese, wenn er so alt wie sein Großvater sein würde, ein besserer Ort für alle Menschen sein möge.
3
D ie bleiche Sonne - ohnehin kaum sichtbar hinter einem dichten Wolkenschleier - verschwand nun endgültig hinter den Bäumen. Irgendwo in den dunklen Wäldern markierte das Heulen eines Wolfs die hereinbrechende Finsternis.
Schon ein paar Minuten später sahen die beiden
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