Socrates - Der friedvolle Krieger
einen am Boden liegenden Kadetten ein, als zwei Instruktoren dazukamen. Sofort kniete Sakoljew neben dem Jungen nieder, als ob er Hilfe leisten wollte, und die Instruktoren sahen nur, wie er sanft das schmerzverzerrte Gesicht des Zusammengeschlagenen berührte und besorgt sagte: »Ich glaube, er hat einen epileptischen Anfall.« Natürlich wagte es der Junge nicht, ihm zu widersprechen - weder gleich noch später. Nachdem sich diese Geschichte herumgesprochen hatte, war Sakoljew der uneingeschränkte Herrscher der Kadettenanstalt.
Es gelang ihm sogar, einige der älteren Kadetten zu manipulieren. Sergej konnte beobachten, wie er es machte. Zuerst erbat er sich nur kleine Gefälligkeiten von ihnen, bis sie sich daran gewöhnt hatten, ja zu sagen, dann wurden seine Bitten unmerklich größer, bis sie schließlich zu Forderungen geworden waren. Manchmal, wenn einer der Älteren genug hatte und sich auch nicht einschüchtern lassen wollte, kam es zum Kampf, den Sakoljew fast immer aus zwei Gründen gewann: Erstens hielt er sich dabei an keine Regeln und zweitens war es ihm völlig gleichgültig, was mit ihm selbst passierte. Das machte ihn zu einem schrecklichen Gegner - vergleichbar mit einem in die Enge getriebenen Wolf.
In den Stuben der Jüngeren herrschte eine Atmosphäre der Furcht. Sakoljew verlangte stets die augenblickliche Befolgung seiner »Bitten« und auf wirkliche oder eingebildete Beleidigungen folgte unweigerlich die härteste Bestrafung. Weder vergaß er noch vergab er jemals und irgendwann litt jeder, der ihn sich zum Feind gemacht hatte. Es war leichter, ihm zu gehorchen, als sich gegen ihn aufzulehnen.
In der Nacht, bevor Sakoljew ins obere Stockwerk umziehen sollte, stieß Andrej versehentlich so heftig mit ihm zusammen, dass Sakoljew ins Stolpern kam. Er fing sich wieder und schlug Andrej so heftig in den Bauch, dass dieser zusammenbrach, zu Boden stürzte und nach Luft rang. Sakoljew stieg über ihn hinweg und legte sich so, als ob nichts geschehen wäre, auf seine Pritsche.
Sergej stürzte herbei, um Andrej zu helfen. Mit vor Wut fest zusammengebissenen Zähnen half er Andrej, der langsam wieder zu Atem kam, sich auf seine Pritsche zu legen. Als Sergej zu Sakoljew hinübersah, starrte ihn dieser mit seinem wölfischen Grinsen an. Sergej nahm all seinen Mut zusammen und starrte voller Verachtung zurück.
Kurz vor dem Einschlafen dachte er wieder einmal an die Hütte im Wald und an Sara und Benjamin, an Awrom und die kleine Leja. Er wünschte sich so sehr, bei ihnen zu sein, dass er, als er endlich einschlief, träumte, dass er am Sabbat in ihrer Hütte aufwachte und für immer bei ihnen bliebe - und dass die Anstalt nur ein böser Traum gewesen wäre. Als er am Morgen in die Realität erwachte, war er über alle Maßen enttäuscht.
In den Wochen, nachdem Sakoljew in den oberen Stock umgezogen war, kehrte in der Anstalt die übliche Routine aus Unterricht und Kampfausbildung, Essen, Gottesdienst und Schlafen zurück. Aber eines Morgens weckte ein älterer Kadett Sergej und seine Zimmerkameraden und führte die zwölf verschlafenen Jungen, die nur Unterhosen trugen und ihre sonstigen Kleider sowie ein Handtuch an die Brust gedrückt hielten, einen langen unterirdischen Korridor entlang.
Der Morgen war kalt und feucht. Wasser tropfte von der Decke und machte Geräusche, die sich mit dem Platschen der nackten Füße auf dem steinernen Boden vermischten. Vor einer massiven eisernen Tür hielten die zitternden Jungen an. Sie quietschte in den Angeln, als der Kadett sie aufstieß. Als Sergej aus der Tür trat, sah er vor sich den See liegen, dessen Oberfläche im ersten Licht des Tages silbern schimmerte. Die Hügel im Osten waren nur als schwacher Umriss sichtbar und es war totenstill. Aber es sollte nicht lange still bleiben.
»Zieht eure Unterhosen aus!«, befahl der Kadett und ging mit gutem Beispiel voran. Dann watete er in das eiskalte Wasser, bis erst seine Schultern und dann sein Hals unter Wasser waren. Schließlich tauchte er ein paar Sekunden lang unter. Als er mit geröteten Wangen wieder hochkam und zitternd zurück ans Ufer watete, wo alle seine Gänsehaut sehen konnten, rieb er sich mit dem Handtuch ab und befahl: »Und nun ihr!« Sergej fiel auf, dass der Kadett sich nur mühsam ein Lächeln verkneifen konnte.
Wie alle anderen ging auch Sergej keuchend, kreischend und hysterisch lachend äußerst vorsichtig ins Wasser. Als er untertauchte, drang ihm die Kälte bis in sein
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