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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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einmal nichts - aus Feigheit und aus Liebe.
    Wenn Paulina ihren Konstantin ansah, überkamen sie Gedanken, für die sie sich schämte. Sie hatte einmal einen der Männer mit Oksana hinter der Scheune gesehen. Was die beiden dort trieben - und die Geräusche, die sie dabei machten -, war ihr damals roh und gefühllos vorgekommen. Aber nun wusste sie nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Ihr Körper und ihr Geist lagen im Streit, weil sie anfing, ihre kindliche Unschuld zu verlieren. Und sie hatte niemanden, mit dem sie darüber reden konnte, nicht einmal Konstantin. Mit dem wollte sie am allerwenigsten darüber reden.
     
    Eines Morgens, nachdem Elena die Hütte verlassen hatte, öffnete Paulina das Medaillon und sah sich die Gesichter ihrer Großeltern noch einmal an. Sie hatte sich die winzigen Gesichter schon einmal unter einer Lupe angeschaut und sich jede Einzelheit eingeprägt. In diesem Augenblick kam Vater Dimitri in ihr Zimmer und sagte kurz angebunden: »Du solltest beim Training sein, der alte Jergowitsch wartet schon auf dich.«
    Paulina seufzte. Jergowitsch wartete immer auf sie, aber eines Tages würde sie so früh aufstehen, dass sie vor ihm in der Scheune wäre. Aber nicht heute. Heute war sie zu müde, zu aufgewühlt und zu reizbar. Und dann war da noch irgendetwas, das sie nicht benennen konnte.
    Ihr Vater wollte gerade gehen, als sie ihn fragte: »Vater, ich habe mich schon manchmal gefragt, warum du deinem Vater eigentlich nicht ähnlich siehst. Dein Haar ist blond und seins ist dunkel und …«
    Weiter kam sie nicht, denn ihr Vater unterbrach sie wütend. »Behellige mich doch nicht mit solchem Unsinn«, schrie er sie an. »Denk einfach nur daran, wer ihn umgebracht hat und trainiere mehr!«
    Paulina war tief verletzt, aber dann wurde sie über die böse Zurechtweisung so zornig, dass sie ihre Wut im Training ausließ. Und es kam, wie es kommen musste: Als sie den großen Jergowitsch warf, zog sie sich eine Muskelzerrung im Arm zu. Sie zuckte vor Schmerz zusammen.
    »Was ist los, meine Kleine?«, fragte der alte Krieger.
    »Es ist nichts, Bär, nur eine kleine Zerrung. Es geht mir gut. Sag bitte meinem Vater nichts davon.« Aber als sie versuchte, den Arm zu heben, tat dies so weh, dass sie sich vor Schmerzen auf die Lippen biss.
    »Das ist nicht gut«, sagte Jergowitsch. »Geh zum Bach und tauch deinen Arm solange ein, bis du ihn nicht mehr spürst. Und dann ruhst du dich aus!«
    »Ich kann mich nicht ausruhen!«, schrie Paulina aufgebracht. »Ich muss noch härter trainieren!«
    »Erst tauchst du deinen Arm ins Wasser und dann sehen wir weiter.«
    »Tauch du doch deinen Kopf in den Bach!«, schrie sie außer sich vor Wut und rannte davon, bevor der verblüffte Jergowitsch sie festhalten konnte.
     
    Paulina saß allein in ihrem Zimmer und fühlte sich so deprimiert wie nie zuvor. Sie rieb den schmerzenden Arm und überlegte sich, ob sie ihn nicht doch besser in den Bach tauchen sollte. Zumindest würde sie dann nicht mehr an den Wutausbruch ihres Vaters denken müssen. Sie hatte ihm doch nur eine einfache Frage gestellt. Warum war er bloß so ausgerastet? Schließlich hatte er ihr das Medaillon gegeben, da konnte sie doch wohl mal fragen. Aber vielleicht war ihm die Frage einfach unangenehm.
    Als sie sich umdrehte, sah sie Vater Dimitri in der Tür stehen. Sie hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen. Tapfer schluckte sie ihre Tränen hinunter, weil sie nicht wollte, dass er sah, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Sie wollte sich entschuldigen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Warum sollte sie sich entschuldigen und wofür?
    So saß sie einfach da und starrte zu Boden. Endlich brach ihr Vater das Schweigen. »Paulina, es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich wollte nicht über meine Eltern sprechen, weil es so viele schreckliche Erinnerungen wachruft.«
    Er kam zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett. Seine Stimme war heiser, als er sagte: »Ich weiß sehr wohl, dass ich meinem Vater überhaupt nicht ähnlich sehe, aber nicht jedes Kind ähnelt seinen Eltern. Sei froh, dass du nicht wie ich aussiehst. Du hast Glück, dass du deiner Mutter nachschlägst. Aber wir haben zumindest das Muttermal gemein.«
    Er hob sein strohblondes Haar hoch, sodass die rote Narbe auf seinem Nacken sichtbar wurde, die der ihren so sehr ähnelte.
    »Du und ich wir sind vom selben Blut«, sagte er und strich ihr über das Haar. »Deshalb habe ich dir meine Ehre anvertraut und mein Leben.

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