Socrates - Der friedvolle Krieger
hatte begonnen, sich zu runden, und die Männer starrten sie immer öfter lüstern an. Besonders Korolew sah sie auf eine Weise an, die ihr kalte Schauer den Rücken hinunterjagte. Sie tat so, als sei er ein Geist, der gar nicht wirklich da war. Solange ihr Vater Ataman war, würde sie sicher sein. Und dank ihrer Kampfkünste hatte sie von den anderen Männern wenig zu befürchten.
Als sie ein paar Tage später in die Hütte zurückkam, hörte sie Oksana und Elena miteinander flüstern. Paulina blieb still stehen, um zu lauschen und hörte Oksana sagen: »Ja, der Ataman wird immer unsicherer. Wieder wurde einer unserer Männer - Leontew - bei einem der Überfälle getötet. Hört das Morden denn niemals auf?« Dann fügte sie schnell hinzu: »Ich sage dir das natürlich nur, weil ich mir Sorgen um den Ataman mache.«
»Natürlich«, erwiderte Elena.
Als Paulina hineinging, wechselten die Frauen abrupt das Thema. Nach ein paar Minuten ging Oksana, aber nicht, ohne sich besorgt umgesehen zu haben. Paulina war aufgefallen, dass sich im Dorf in der letzten Zeit einiges verändert hatte: Die Leute schlichen lustlos herum, flüsterten untereinander und verbargen ihre Gefühle hinter den Masken, die sie nun ständig trugen. Besonders Elena hütete ihre Zunge. Paulina fragte sich, ob sich die anderen wirklich verändert hatten oder ob sie zum ersten Mal bemerkt hatte, was schon immer der Fall gewesen war.
Sie konzentrierte sich weiterhin auf ihr Training und wollte gar nicht wissen, was die Männer taten, wenn sie auf Patrouille ritten. Als sie klein war, hatte sie einmal gefragt und es hatte nur geheißen: »Wir reiten für den Zaren auf Patrouille.«
Sie würde Konstantin fragen müssen oder Schura, aber sie hatte fast nie die Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Schura nickte ihr freundlich zu, wenn sie vorüberging, aber sie blieb nie stehen, um ein paar Worte zu wechseln.
Deshalb war Paulina auch so überrascht, als Schura eines Tages bei ihr stehen blieb. Es sah so aus, als hätte sie etwas auf dem Herzen. »Was ist denn los, Schura?«, fragte Paulina.
Aber Schura stand nur stumm da und sah sie an.
»Schura?«
Die alte Frau sah ängstlich nach links und nach rechts, dann flüsterte sie: »Ich kam kurz nach deiner Geburt. Ich habe für dich gesorgt.«
»Das hast du mir schon gesagt«, warf Paulina ungeduldig ein.
Schura sah sich noch einmal ängstlich um, dann sagte sie: »Paulina, du hast mich doch gern, oder?«
»Natürlich, aber was hat das …«
Schura unterbrach sie. »Du möchtest doch nicht, dass ich Ärger bekomme, oder? Kannst du es für dich behalten, wenn ich dir etwas anvertraue?«
»Natürlich. Darf ich es denn wenigstens Vater Dimitri sagen?«
»Dem am allerwenigsten«, antwortete Schura und verzog das Gesicht. Dann schien sie zu einer Entscheidung gekommen zu sein. »Die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Zum Beispiel die Narbe auf deinem Hals.«
Paulina fasste sich an den Hals, um ihre Narbe zu betasten. »Mein Muttermal? Mein Vater hat auch so eins.«
»Ja … Nein!« Schura hätte fast geschrien. »Es ist nicht wie seins. Es ist überhaupt kein Muttermal. Die Narbe stammt von einem Säbel. O mein Gott, es tut mir ja so leid.«
»Was sagst du da?«, fragte Paulina lauter als beabsichtigt. Als sie sah, dass Schuras Gesicht aschfahl geworden war, fügte sie leiser hinzu: »Schura, ich verstehe das alles nicht.«
Aber Schura stammelte nur vor sich hin. »Du warst so winzig, als man dich zu mir brachte. So ein kostbares Kind … nicht wie er … er hat so viele ermordet …«
Als Schura sah, dass sich ihnen einer der Männer näherte, machte sie sich davon. Zurück blieb eine aufgewühlte Paulina, die versuchte, in dem, was ihr die alte Frau erzählt hatte, einen Sinn zu finden.
42
G egen Mitte des Sommers war Sergej müde und entmutigt. Auch ein weiteres Jahr des Suchens hatte ihn seinem Ziel keinen Schritt näher gebracht. Zwar hatte er einige niedergebrannte Gehöfte und Hütten gefunden, aber von Sakoljew selbst fehlte jede Spur. Und obwohl er die Orte des Schreckens auf einer Landkarte eingezeichnet hatte, konnte er auch diesmal kein Muster entdecken.
In dieser Nacht träumte Sergej, dass er und Paestka zwei winzige Punkte waren, die bis in alle Ewigkeit über eine riesige Karte der Ukraine wanderten und einen Punkt suchten, der sich immer weiter von ihnen entfernte. Erschöpft und frustriert wachte er auf. Er fing an zu glauben, dass Sakoljew sich bis nach Sibirien
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