Socrates - Der friedvolle Krieger
endlich umfiel und tot war.«
Sakoljew atmete schwer und versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Schließlich würde es nichts nützen, der Frau etwas zuleide zu tun. Also sagte er mit leiser Stimme: »Oksana, ich frage dich zum letzten Mal. Wo ist Paulina?«
Sie zeigte auf seine Hütte. »Ich … ich glaube Konstantin ist bei ihr. Er brachte sie in die Hütte.«
Sakoljew ließ endlich ihre Schultern los und rannte in sein Haus.
Paulina hatte Konstantin angefleht zu gehen, als sie hörte, dass die Männer zurückkamen. Als ihr Vater in die Hütte kam, saß sie in einer Art Trance da und starrte blind vor sich hin. Sie hatte Schura gerächt - die Frau, die sie aufgezogen hatte - und sie hatte Jergowitsch gerächt, der ihr mehr beigebracht hatte, als er selber wusste. Es machte sie krank, wenn sie daran dachte, wie leicht das Töten ist. Es machte sie aber auch krank, dass sie den Mann hatte töten wollen. Und es machte sie krank, was er gesagt hatte, bevor sie ihn getötet hatte.
Erst hatte er etwas in einer Sprache geschrien, die sie nicht kannte, aber dann hatte er etwas auf Russisch gesagt. In diesem Augenblick hatte Paulina erkannt, dass er nicht zufällig auf sie gestoßen war, sondern dass er sie gesucht hatte. Der Mann hatte nämlich geschrien: »Ihr Mörderpack! Ihr habt seine Frau umgebracht! Und seine Kinder! Und warum? Nur weil wir Juden sind?« In seinen verwirrten Augen standen Tränen. Paulina verstand den Rest seines Gebabbels nicht, er war offensichtlich irre. Aber die Worte, die er gesagt hatte, hatten den Klang der Wahrheit.
Die Worte des Irren hatten Paulina gezwungen, sich mit den Tatsachen auseinander zu setzen, die sie bisher so erfolgreich ignoriert hatte. Woher kamen die Pferde, die Schafe, die Kisten und Kästen, die Werkzeuge und Bücher und all die anderen Dinge im Dorf?
In diesem Augenblick stürmte ihr aufgebrachter Vater in die Hütte. »Paulina, ist alles in Ordnung?«
Sie antworte langsam und mit tonloser Stimme: »Ich bin nicht verletzt, falls es das ist, was du wissen willst.« Sie drehte sich um und sah ihren Vater mit neuen Augen. Sie sah einen alten Mann - erschöpft, ausgezehrt und gequält -, aber sie sah auch einen Mann, der offensichtlich dem Wahnsinn verfallen war.
Sakoljew stieß einen Stoßseufzer der Erleichterung aus. »In Ordnung, du hast dich gut gehalten. Oksana hat mir alles erzählt. Bald bist du so weit …« Er wollte ihr übers Haar streichen, aber sie schreckte vor ihm zurück.
Er tat so, als habe er nichts bemerkt. »Ruh dich aus«, sagte er. »Morgen werde ich einen neuen Lehrer für dich finden.«
Paulina starrte zu Boden, als sie sagte: »Meinst du wirklich, dass ich nach dem, was heute war, noch einen Lehrer brauche?« Aber als sie aufsah, war niemand mehr da.
Sakoljew war zum Bach gegangen, um sich zu waschen, um seinen Körper zu schrubben, bis er rot und roh war, und um seine Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Später würde er versuchen zu schlafen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er Schura und Jergowitsch verloren hatte, denn die beiden waren ihm stets von Nutzen gewesen. Aber durch ihren Tod war seine Tochter gezwungen gewesen, ihre Fertigkeiten in einem Kampf auf Leben und Tod unter Beweis zu stellen. Dafür war er dankbar. Sie war bereit.
Bald , dachte Paulina, bald hat er gesagt . Sie hoffte, dass er Recht hatte. Sie wollte es hinter sich bringen, sie wollte herausfinden, ob es noch etwas anderes auf der Welt gab als diese Aufgabe. Als ihr mit aller Deutlichkeit bewusst wurde, dass sie sich dem Monster nun bald würde stellen müssen, erbebte Paulina. Sie wusste, dass sie kämpfen konnte - und nun wusste sie auch, dass sie imstande war zu töten -, aber war sie wirklich so weit, dass sie Sergej Iwanow töten konnte? Sie hielt das Medaillon eng umschlossen in der Faust, als ob sie die Seelen ihrer Großeltern beschützen wollte. Was ihre Mutter wohl gedacht hatte, bevor das Monster sie umbrachte?
Ja, sie konnte ihn töten, und sie würde es tun. Davon hing alles ab. Nicht nur ihr Leben, denn wenn es ihr misslang, würde sie mit Sicherheit selbst sterben. Aber falls er ihr entkommen sollte und sie überlebte, würde sie mit der Schande nicht weiterleben können.
Sie fragte sich, was mit ihr passiert war. Was war aus dem Mädchen geworden, das so viele Träume gehabt hatte? Nun war sie nur noch von einem einzigen Gedanken besessen. Paulina seufzte. Sie wünschte sich, ihr Vater hätte ihr diese Last niemals aufgebürdet.
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