Socrates - Der friedvolle Krieger
kleiner kluger Junge wie ich fangen konnte. Mein Opa Abe starb, als ich noch ein Kind war.
Meine Großmutter, die wir Babu nannten, erzählte keine Geschichten. Aber sie machte die besten Erdnussbutter-Marmelade-Sandwichs und schien es als ihre Hauptaufgabe anzusehen, mir Fünfjährigem die Ohren zu waschen. Ich erinnere mich gerne an Babu - an eine alte weißhaarige Frau in einem geblümten Kleid, die genauso aussah, wie eine Oma nach Meinung eines Fünfjährigen aussehen sollte. Wenn ich bei ihr schlief, kümmerte sie sich rührend um mich. Als ich älter wurde und auswärts aufs College ging, sah ich Babu nur noch bei meinen immer seltener werdenden Besuchen.
In den Siebzigerjahren zog ich zurück nach Kalifornien und sah Babu öfter. Sie war damals etwa achtzig, bettlägerig und ihre Sehkraft ließ immer mehr nach. Ich hatte schon angefangen zu schreiben und wenn ich sie besuchte, las ich ihr aus meinen verschiedenen Projekten vor.
Eines Sonntags las ich ihr aus einem frühen Manuskript dieses Buches vor. Ich dachte, es würde ihr gefallen, da es in ihrer alten Heimat Russland spielte. Als ich anfing, war ich mir nicht sicher, dass sie mir überhaupt zuhörte, aber das änderte sich schlagartig, als ich den Namen Sergej Iwanow erwähnte. Als sie diesen Namen hörte, lehnte sich Babu aufgeregt vor und riss ihre trüben Augen weit auf.
»Ist alles in Ordnung, Babu?«, fragte ich.
»Ja, ja, lies nur weiter«, antwortete sie und starrte ins Leere.
Da ein Name wie Sergej Iwanow in Russland häufig vorkommt, dachte ich, sie habe jemand mit diesem Namen gekannt. Aber als ich den Namen des Jungen erwähnte - Konstantin -, hob Babu eine Hand und unterbrach mich.
»Lies nicht weiter!«, befahl sie. Ich hatte sie noch nie so energisch sprechen gehört. Aber was meine Aufmerksamkeit erregte, war nicht der ungewohnte Befehlston, sondern die Tränen, die aus ihren alten Augen flossen. Babu wischte sie weg und erzählte mir die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend - die Geschichte ihres Lebens.
Ich erfuhr mehr, als ich je erwartet hätte.
Konstantin hatte die Bekanntschaft eines elegant gekleideten Mannes namens Goguet gemacht. Goguet war französischkanadischer Abstammung, besaß eine Modefirma und suchte einen Modezeichner. Nachdem er sich Konstantins Zeichnungen angesehen hatte, bot er ihm auf der Stelle einen Job in seiner Firma an.
Nachdem sie in New York angekommen waren und sich von Sergej verabschiedet hatten, zogen Paulina und Konstantin weiter nach Toronto, wo sie eine kleine Wohnung mieteten und bald darauf heirateten.
Nach ein paar Jahren bekamen die beiden zwei Töchter. 1916 zogen sie an die Westküste der Vereinigten Staaten.
Sergej seinerseits reiste zu Fuß, zu Pferd und manchmal mit dem Zug durch die ganzen Vereinigten Staaten und erforschte Land und Leute. Da er ein gutes Gedächtnis und ein gutes Ohr für fremde Sprachen hatte, lernte er schnell, Englisch ohne erkennbaren Akzent zu sprechen. Die Briefe, die er gelegentlich an Valeria und Andreas schrieb, gab er in den verschiedensten Städten auf.
Einige Jahre später erhielt Sergej einen Brief von einem der Meister, die er in Margelan kennen gelernt hatte und reiste in den Himalaja. Eine Zeitlang gab es von ihm kein Lebenszeichen.
Als Valeria 1918 starb, gelang es Andreas, seine Familie aus dem kommunistischen Russland herauszubringen. Und wie es so vielen Auswanderern widerfährt, verloren die einzelnen Familienangehörigen den Kontakt zueinander.
Sergej kehrte schließlich nach Amerika zurück und ließ sich im kalifornischen Oakland nieder - keine achthundert Kilometer von seiner Tochter entfernt, was aber keiner von beiden ahnte.
Für Paulina und Konstantin gab es nur noch ihre Familie und die Zukunft. Ihrer Meinung nach hatte ihr Leben erst begonnen, als sie in Amerika angekommen waren. Konstantin nahm in dem neuen Land einen neuen Namen an. Der erste, der ihm einfiel, war der des Verfassers seines Lieblingsbuches: Abram Tschudominski. Als der Beamte der Einwanderungsbehörde ihn aufschrieb, wurde daraus Abraham Chudom. Konstantin akzeptierte es so und Paulina nahm denselben Namen an und änderte ihren Vornamen in Pauline.
Pauline und Abraham nannten ihre beiden Töchter Vivian und Edith. Die beiden Mädchen wuchsen in Südkalifornien auf, wohin ihre Eltern mittlerweile gezogen waren. Vivian heiratete einen Mann namens Herman Millman, mit dem sie zwei Kinder hatte: eine Tochter namens Diane und einen Sohn namens Daniel.
Erst als
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