Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
Vom Netzwerk:
einem Teich zu trinken, sah er im Wasser ein geschwollenes, vor Dreck starrendes Gesicht. Und sein Haar war vollkommen weiß geworden.
    Dann erblickte er die Türme der Stadt und kehrte in die Welt der Menschen zurück. Er musste der Frau, die für ihn so etwas wie eine Mutter geworden war, eine schreckliche Nachricht überbringen. Er würde ihr sagen müssen, dass er sein Versprechen gebrochen hatte.
     
    Als er von der Straße zu den Fenstern der Wohnung hinaufsah, erinnerte sich Sergej an den Augenblick, in dem er um Anjas Hand angehalten hatte. Und jetzt … Er stöhnte vor Schmerz auf. Nichts konnte mehr schmerzen als dies. Langsam erklomm er die Treppenstufen und klopfte leise an die Tür. Sofort hörte er eilige Schritte und die Tür wurde weit aufgerissen. Valerias Stimme war panisch, aber auch erleichtert. »Mein Gott, wo seid ihr gewesen?« Sie brach ab, als sie realisierte, dass Sergej allein vor ihr stand.
    Ihr Gesicht war bleich und eingefallen, ihr graues Haar zerzaust und unter den geröteten Augen hatte sie schwarze Ringe. Aber Sergej hatte sich noch mehr verändert als sie. Seine gebrochenen Wangenknochen, seine geschwollene Nase und Oberlippe, seine eingesunkenen Augen und sein weißes Haar ließen ihn wie eine groteske Karikatur seiner selbst erscheinen. Tatsächlich spiegelte sein Äußeres genau das wider, was er im Innern fühlte.
    Aber Valeria hatte ihn sofort erkannt und sah mit schreckgeweiteten Augen an ihm vorbei, als suche sie im Dunkel des Treppenhauses etwas. »Wo ist Anja?«
    Sergej stand wie versteinert da und brachte kein Wort über die Lippen.
    »Wo in Gottes Namen ist Anja?«, wiederholte sie mit einer Stimme, die gleichzeitig ein Flüstern und ein Schrei war. Dann sah sie Sergej an und ihr Herz erkannte die Wahrheit, noch bevor ihr Verstand es glauben konnte. Anja war nicht da. Sie würde nie wieder da sein.
    Sergej fing sie auf, als sie in Ohnmacht fiel, und legte sie vorsichtig auf das Sofa.
    Als sie wieder zu sich kam, sagte Valeria schroff: »Erzähl mir, was passiert ist.«
    Mit ausdrucksloser Stimme fing Sergej an zu erzählen. »Eine Bande übler Kerle überfiel uns auf der Wiese. Ich wurde überwältigt und bewusstlos geschlagen. Anja wurde ermordet. Ich folgte ihnen, um ihren Tod zu rächen, aber ich verlor ihre Spur …«
    Valeria weigerte sich zu glauben, was sie gerade gehört hatte. Lieber würde sie glauben, dass Sergej zu der Gemeinheit fähig war, sie mit dieser ungeheuerlichen Lüge zu quälen. Sergej saß still neben ihr, bis die Wahrheit in ihr Herz eingesunken war. Endlich flüsterte sie mit einer so müden Stimme, dass sie kaum zu hören war: »Sechs Tage und sechs Nächte der Ungewissheit. Zuerst hatte ich Angst, ihr wäret fortgelaufen. Dann betete ich, dass ihr fortgelaufen wäret. Ich versuchte es mir einzureden, aber ich wusste, dass mich Anja niemals …« Sie brach von Schmerz überwältigt ab.
    Sergej hörte ihre unausgesprochenen Gedanken. Sie war es gewesen, die sie gebeten hatte, in Sankt Petersburg zu bleiben, damit sie ihr Enkelkind sehen könnte. Nun würde sie sich für den Rest ihres Lebens die Schuld am Tod ihrer Tochter geben.
    Sergej wusste, dass Worte ihr nicht würden helfen können und dass nichts, was er sagen könnte, zu ihr durchdringen würde. Er stellte sich vor, wie Andreas sich in diesem Moment in seine Arbeit stürzte, um nicht an das Undenkbare denken zu müssen.
    Valeria atmete tief ein und stieß dann mit großer Anstrengung hervor: »Hast du meine Tochter wenigstens ordentlich begraben?«
    Sergej nickte bedächtig. »Sie liegt auf der Wiese.«
    Er wollte ihre Hand ergreifen, aber Valeria zog sie schnell weg. Und dann sagte sie die Worte, die er am meisten gefürchtet hatte und die unweigerlich kommen mussten: »Wieso ist Anja tot und du am Leben?«
    Sergej hatte keine Antwort auf diese Frage, die er sich selbst schon hundertmal gestellt hatte.
    Valeria fuhr fort: »Hast du mir nicht in diesem Zimmer versprochen, sie zu beschützen, sie mit deinem Leben zu verteidigen? Hast du es mir nicht versprochen?« Beide kannten die Antwort.
    Seine Augen suchten in ihren nach einem Funken Verständnis. »Mutter, ich …«
    Valeria unterbrach ihn und erhob sich mühsam: »Du hast zugelassen, dass man sie getötet hat. Du bist ein Feigling. Du bist nicht mehr mein Sohn. Verlass auf der Stelle dieses Haus!«
    Er nickte und stand ebenfalls auf. Zum letzten Mal ging er in ihr Schlafzimmer und holte seine wenigen Sachen. Sergej starrte Anjas

Weitere Kostenlose Bücher