Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
Vom Netzwerk:
Kissen an und strich sanft über das Nachthemd, das ordentlich gefaltet auf dem Bett lag. Er drückte es gegen sein Gesicht und atmete noch einmal ihren Duft ein. Vor seinen Augen tauchten Bilder auf - Bilder von den glücklichen Momenten, die sie miteinander geteilt hatten. Aber der Schmerz überwältigte ihn erneut in einem solchen Ausmaß, dass seine Beine versagten.
    Steif erhob er sich wieder, warf sich den Rucksack, in dem sich sein Messer, der Spaten und ein paar Kleider befanden, über die Schulter und verließ die Wohnung so, wie er gekommen war: als einsamer Wanderer ohne Familie.
     
    Valeria lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Ihre rotgeweinten Augen starrten ins Leere. Sie atmete kaum, bis ihr klar wurde, dass Andreas bald nach Hause kommen würde und dass es ihre Aufgabe war, ihm alles zu erzählen. Da entrang sich ihrer Brust ein tiefer Seufzer und sie fing an zu schluchzen und konnte nicht mehr aufhören.
    Später schlich sie wie eine Schlafwandlerin durch die Wohnung und versuchte ein wenig Wärme in ihren kalten Körper zu bringen. Die Wohnung war so leer wie ihre Seele. Sie wandte sich dem Kamin zu, um sich zu wärmen, als ein schriller Schrei des Entsetzens ihren Körper schüttelte. Nie, nie würde sie ihre Tochter wiedersehen.
    Immer und immer wieder schlug sie mit den Fäusten auf den Kaminsims und durch ihre Schläge verschob sich die Uhr. Valeria sah zu, wie die Uhr fiel - die Uhr, die Heschel aus dem Holz gebaut hat, das Benjamin im Wald geschlagen hatte -, wie sie sich in der Luft überschlug und auf den Boden prallte, wo sie in tausend Stücke zersplitterte. Und als die Uhr zerbrach, da brach auch etwas in Valeria und sie stürzte besinnungslos zu Boden.
     
    Da er seine Aufgabe erledigt hatte, kehrte Sergej zur Wiese zurück, auf der seine Frau und sein Kind begraben lagen und wartete auf den Tod. Er hatte es sich genau überlegt: Er würde hier an diesem Ort nicht sein Blut vergießen, er würde sich einfach auf ihr Grab legen und darauf warten, dass Hunger und Durst ihre Arbeit taten.
    Ein Tag verging. Dann ein zweiter und ein dritter. Dann zählte er nicht mehr. Er hatte schon längst keinen Hunger mehr. Der Schmerz in seinen aufgeplatzten Lippen war nur eine kleine Buße, selbst sein Tod würde seine Schuld niemals begleichen können. Er hatte nicht vor, sich jemals wieder zu erheben.
    Gedanken, Gefühle und Geräusche zogen durch seinen Geist, als er in einem traumgleichen Zustand vor sich hindämmerte. Szenen aus Vergangenheit und Zukunft zogen vor seinem inneren Auge vorbei: ein Vater, allein und betrunken in einem düsteren Raum … sein Großvater, der immer kleiner wurde … Anja, die ihr Kind stillte … ihre Kinder, die in einem Park in Amerika spielten.
    Dann tauchten geheimnisvolle Bilder aus den Tiefen des Unbewussten auf. Sergej sah Charon, den Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt bringt. Er sah einen mürrischen alten Mann, der am Ufer des Acheron, des Flusses des Leides, auf ihn wartete. Aber da Sergej keine Münze hatte, die er dem Fährmann hätte geben können, musste er auf ewig an den Ufern des Totenflusses entlang durch das Schattenreich wandern.
    Sergej blickte in das schwarze Wasser dieses Flusses, von dem es keine Wiederkehr gibt, und er sah den Mond und die Sterne in ihm widergespiegelt. Dann dämmerte es ihm, dass dies möglicherweise gar kein Traum war, sondern dass er von den Toten auferstanden war und am Ufer der Newa stand. Er beugte sich nach vorn und fiel in den Mond und die Sterne hinein.
    Der Aufprall auf die Wasseroberfläche war so stark, dass Sergejs Körper augenblicklich wiederbelebt wurde. Erst schluckte er keuchend und prustend Wasser, dann trank er es in vollen Zügen. Und das Wasser heilte ihn. In einem Augenblick der Gnade war der Dämon der Selbstzerstörung ausgetrieben und Sergej auf den Weg des Lebens zurückgeführt worden.
    Er kämpfte sich aus dem Fluss ans Ufer, wie es das erste Geschöpf vor Äonen getan haben musste, als es an Land kroch. Tropfnass und in der warmen Sommernacht neugeboren, hörte er die Stimme von Alexej dem Kosaken in seinem Kopf. »Ein Mann wird an zweierlei gemessen: daran, wie er lebt, und daran, wie er stirbt.«
    Sergejs Leben war sinnlos geworden, aber sein Tod würde einen Sinn haben. Er würde sein Leben nicht einfach wegwerfen, so leicht würde er es dem Tod nicht machen. Anja hatte tapfer um ihr Leben gekämpft, wie konnte er da einfach aufgeben?
    »Warum lebst du

Weitere Kostenlose Bücher