Socrates - Der friedvolle Krieger
der Frühling vergangen war.
Im Herbst des Jahres 1894 wurde Sergej auf den weiten Ebenen zweiundzwanzig. Immer noch ritt er von Siedlung zu Siedlung. Wohl fand er die Ruinen mehrerer Bauernhöfe, aber nichts weiter. Wenn er ankam, waren weder Spuren noch sonstige Hinweise zu erkennen. Vielleicht hatte der Bauer ja doch Recht gehabt, vielleicht verfolgte er wirklich eine Gruppe Geister.
Im Sommer hatte er einfach unter freiem Himmel geschlafen, aber nun, da die ersten Herbststürme eingesetzt hatten, suchten Dikar und er immer häufiger Schutz in der Scheune eines Bauern.
Ende Oktober sah er auf seine Karte, auf der er nicht nur die niedergebrannten Gehöfte eingetragen hatte, sondern auch die Orte, an denen es angeblich Überfälle gegeben haben sollte. Er versuchte ein Muster zu entdecken, aber alles schien völlig willkürlich zu sein. Entmutigt ritt er weiter, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.
In der Nähe von Winnitsa am Bug, südwestlich von Kiew, erfuhr Sergej im November von einem fahrenden Händler, dass Zar Alexander III. gestorben war und dass Zar Nikolaus II. ihm auf den Thron gefolgt war. Neuigkeiten dieser Art interessierten Sergej nicht besonders, denn sein ganzes Interesse galt einem Mann: Dimitri Sakoljew.
Gegen Ende des Winters hatten Sergejs Zweifel einer ausgewachsenen Depression Platz gemacht. Er hatte hart trainiert, er hatte gegen die besten Kosaken gekämpft, Razin hatte seine Instinkte geschärft und doch war er Sakoljew nicht näher als vor drei Jahren, als er seine Spur verloren hatte. Hatte er all diese Jahre verschwendet? Würde er auch die nächsten drei, sechs oder zehn Jahre mit dieser sinnlosen Suche zubringen?
Selbst Dikar schleppte sich nur noch lustlos dahin - wie ein Pferd, das keinen Reiter mehr hat. Die bleiche Wintersonne hatte weder die Kraft, die Flüsse aufzutauen, noch die Kälte, die tief in Sergejs Knochen steckte. Und doch ritt er ohne Hoffnung unter einem grauen Himmel weiter. Manchmal glaubte er, bereits gestorben zu sein und durchs Fegefeuer zu reiten. Dann legte er den Kopf in die Hände und weinte.
Aber dann kam doch der Frühling und damit kehrte, wenn schon keine Hoffnung, so doch zumindest die Wärme in Sergejs Körper zurück. Ein Monat folgte dem anderen, der Sommer kam und ging.
Dann an einem Oktobernachmittag, als der Himmel nach Regen aussah und ein kalter Wind aufkam, näherte sich Sergej wieder einmal einem kleinen Dorf. Er lagerte im Wald außerhalb der Siedlung, pflockte Dikar an und machte sich zu Fuß auf, um nach Informationen zu suchen oder zumindest ein freundliches Gesicht zu sehen.
Außerhalb des Dorfes lungerten vier Männer herum, die aussahen, als ob sie betrunken wären. Sergej wollte an ihnen vorbeigehen, aber einer von ihnen stellte sich ihm in den Weg und fragte: »Was willst du in unserem Dorf, Fremder? Suchst du etwas zum Essen oder willst du eine Frau?«
»Das Essen wird dir besser bekommen als die Frauen«, rief einer der anderen und stieß dem Anführer verschwörerisch den Ellenbogen in die Rippen. Alle vier schüttelten sich vor Lachen.
Sergej lächelte höflich und versuchte erneut, an ihnen vorbeizugehen. Plötzlich schlug die Stimmung um. Ein zweiter Mann stellte sich ihm in den Weg. Dann erklärte ihm der Anführer: »Du musst Zoll zahlen, wenn du den Ort auf diesem Weg betreten willst.«
Um Ärger zu vermeiden, zuckte Sergej mit den Schultern und wollte umkehren. Aber die beiden anderen versperrten ihm den Rückweg. »Dieser Weg ist sogar noch teurer«, sagte der Größere der beiden höhnisch.
»Ich möchte keinen Ärger«, sagte Sergej. »Ich suche nach einer Gruppe …«
Der Anführer unterbrach ihn, wahrscheinlich weil er Sergejs Höflichkeit mit Schwäche oder Angst verwechselte. »Hast du nicht gehört? Du musst uns etwas zahlen, und zwar auf der Stelle!«
Nun war offensichtlich, dass die Männer Strauchdiebe waren, die Sergej ausrauben und wahrscheinlich auch verprügeln wollten. Er beobachtete sie aufmerksam, während sie ihn ihrerseits einzuschätzen versuchten. Was sie sahen, war ein schlanker Mann mit weißem Haar, der allein war. Sie fanden, dass vier von ihnen ausreichen würden, um ihn fertig zu machen.
»Ich will keinen Ärger«, betonte Sergej noch einmal. »Lasst mich einfach durch, dann seht ihr mich nicht wieder.«
»Nicht ohne Zoll zu kassieren«, sagte einer und zog ein Messer aus dem Gürtel. Dann kam er näher und die anderen folgten ihm. Als der Mann mit dem Messer den
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