Socrates - Der friedvolle Krieger
zu satteln. Doch Dikar lag zerschmettert unter dem herabgestürzten Ast am Boden. Sergej untersuchte den Körper des Pferdes, fand aber kein Anzeichen von Leben.
Von Trauer überwältigt grub Sergej mit seinem Spaten einen halben Tag lang ein Grab für seinen treuen Gefährten. Dann rollte er den Körper des Pferdes in die Grube. Als er sie wieder zuschüttete, nahm er Abschied. »Du hast mich weit getragen, tapferer Freund, und dich niemals beklagt.« Das Gefühl des Verlusts wurde immer größer. Er hatte in seinem jungen Leben schon viel zu viel verloren: seine Eltern, seinen Großvater, seine Frau, sein Kind und nun auch noch dieses unschuldige Tier, das ihm ein so guter Gefährte gewesen war.
Der Schmerz erinnerte Sergej daran, aus welchem Grund er sich überhaupt hier befand. Nicht, dass er weitere Erinnerungen gebraucht hätte, aber der Sinn seiner Reise wurde ihm wieder deutlich bewusst. Nachdem er seine verschwitzte Kleidung ausgezogen hatte, sprang er in den kalten Bach, tauchte unter und wusch sich Dreck und Schweiß ab. Dann aß er seine letzten Vorräte und machte sich zu Fuß auf. Den Sattel hatte er aufs Grab gelegt. Er würde wieder dem Don nach Norden folgen.
Razin hatte doch Recht , dachte er. Ich bin noch nicht so weit, dass ich es mit Sakoljew und seinen Männern aufnehmen könnte. Erst muss ich diesen Meister auf Walaam finden. Wenn es ihn überhaupt gibt , fügte er hinzu.
Während er über sanft geschwungene Hügel und weite Ebenen wanderte, wurde Sergej noch etwas klar. Um Sakoljew und seine Kumpane besiegen zu können, würde es nicht ausreichen, von einem Meister zu lernen. Er würde selbst zum Meister werden müssen.
Sergej brauchte mehr als sechs Monate, um Sankt Petersburg zu erreichen. Auf dem tausend Kilometer langen Weg musste er wieder und wieder all seine Fähigkeiten einsetzen, um zu überleben. Als er endlich die Türme der Stadt vor sich sah, war er zu Tode erschöpft. Wieder einmal war er völlig zerlumpt, mit langem Haar und wallendem Bart in der Stadt angekommen - nur war sein Haar diesmal weiß.
Es kam nicht infrage, Valeria und Andreas aufzusuchen. Diese alten Wunden wollte er nicht wieder öffnen. Es war besser, ihren Frieden - falls sie ihn denn gefunden hatten - nicht zu stören. Er würde sich auch kein Zimmer nehmen, denn er würde seine wenigen Rubel für die Überfahrt auf die Mönchsinsel brauchen.
Gegen Abend kam er auf die Wiese, auf der das Grab seiner Familie lag. Der Platz war zwar überwuchert, aber eine kleine Markierung war noch sichtbar. Vor dem Einschlafen setzte sich Sergej neben das Grab und sprach mit Anja. Er erneuerte seinen Treueschwur und gelobte, ihren Tod zu rächen. Er versprach auch, die Welt ein für allemal von Menschen wie Sakoljew zu befreien. Dann wünschte er ihr mit denselben Worten eine gute Nacht, die er gebraucht hatte, als sie noch am Leben war: »Du bist mein Herz.« Er streichelte die Erde, in der sie begraben lag und legte sich schlafen.
In dieser Nacht waren seine Träume zwar von Trauer und Sehnsucht erfüllt, aber dennoch erlebte er auch Momente der Liebe und des Friedens. Er hatte das Gefühl, Anja sei bei ihm. Als der Nachtwind kühlend über seine Stirn strich, glaubte er, Anja streichele und küsse ihn. Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er im Schlaf.
So kam es, dass Sergej Iwanow im Frühjahr des Jahres 1896 ein Boot bestieg, das ihn die Newa hinauf nach Norden zum Ladogasee und auf die Mönchsinsel Walaam brachte.
TEIL 5
Die Mönchsinsel
Weichheit besiegt Härte, Sanftheit Stärke.
Was sich beugt, ist dem, was sich nicht beugt, überlegen.
Dies ist das Prinzip, die Dinge zu beherrschen,
indem man sich ihnen anpasst. Dies ist das Prinzip der
Meisterschaft durch Anpassung.
FREI NACH LAOZI
27
W ährend der zwölfstündigen Fahrt des Zweimasters unterhielt sich Sergej mit mehreren Pilgern, die ebenfalls zur Insel unterwegs waren. Er erfuhr, dass Walaam zwar die größte der Inseln des Ladogasees war, dass sie dennoch nur sieben Kilometer von einer Seite zur anderen maß. Ihr vorgelagert waren einige kleinere Inseln. Die Küste war von schroffen Klippen umgeben und von dichten Wäldern gesäumt, aber als der Schoner um einen Felsvorsprung herumsegelte, kam eine kleine Bucht in Sicht, über der der Hauptturm des großen Klosters zu sehen war. Das Kloster - eine riesige, strahlend weiße Festung mit blauen Türmchen, deren Spitzen mit Gold bedeckt waren - war achthundert Jahre alt. Sergej kam es
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