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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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Essen vorbei war, sprach Sergej Bruder Jewgeni an. Er flüsterte: »Heute Nachmittag habe ich Vater Seraphim gesehen. Warum war er nicht beim Essen?«
    »Du sagst, du hättest ihn gesehen?«, fragte der Mönch ungläubig.
    »Ja, er stand dort in der Tür.«
    Jewgeni schüttelte den Kopf und sagte: »Du musst jemand anderen gesehen haben. Vater Seraphim wird nicht vor Morgen zurückerwartet.«
     
    Als der Vorsteher am nächsten Tag zurückkam, befahl er Sergej zu sich in seine winzige Zelle. Er bedeutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen. Ein sanftes Leuchten schien den alten Mönch zu umgeben. Seine Mähne aus weißem Haar und sein voller Bart ließen ihn irgendwie größer und beeindruckender als andere Menschen erscheinen. Sergej, der den Mann voller Ehrfurcht anstarrte, war noch niemals einem Menschen mit einer solchen Ausstrahlung begegnet.
    »Ich bin Vater Seraphim«, stellte sich der Vorsteher vor. »Aber ich glaube, wir sind uns bereits begegnet, oder?«
    Sergej räusperte sich und versuchte, seine Stimme wieder zu finden. »Ich bin so froh, Sie zu sehen, Vater. Ich möchte Sie um Erlaubnis ersuchen, den Winter über hier bleiben zu dürfen.«
    »Und dann?«, fragte der alte Mönch.
    »Dann? Was dann wird, weiß ich nicht«, antwortete Sergej ehrlich.
    Der Vater schloss die Augen, atmete tief ein und sagte eine Minute lang überhaupt nichts. Schließlich öffnete er die Augen wieder und sprach: »Es ist zwar ungewöhnlich, dass ein Laie in einer Einsiedelei bleibt, aber ich habe es mir gut überlegt. Du darfst den Winter über bleiben, vielleicht sogar noch länger …«
    Als er sah, dass Sergej immer wieder zu dem Sarg schaute, lächelte er und sagte: »Dieser Kasten ist mein Bett, aber er erinnert mich auch daran, die Zeit, die Gott mir zugeteilt hat, zu nutzen. Und wenn ich eines Morgens nicht mehr aufstehen sollte, dann wird er den Brüdern einiges an Mühe ersparen.«
    Es war einfach nicht der richtige Augenblick, um Vater Seraphim zu fragen, ob er jemals einem großen Kämpfer begegnet war.

28
    S o begann Sergejs Aufenthalt in Sankt Awram Rostow, wo er Seite an Seite mit den asketischen Mönchen lebte, mit ihnen die vegetarischen Mahlzeiten einnahm, während des Mahles das Schweigegebot beachtete und nach einem Mann suchte, den es vielleicht gar nicht gab. Es schien sich nie die Möglichkeit zu ergeben, noch einmal allein mit Vater Seraphim zu sprechen, weil dieser sich entweder im Hauptkloster aufhielt, wo er die Kranken heilte, oder sich um die in der Einsiedelei lebenden Mönche kümmerte oder in stiller Abgeschiedenheit betete. Da die Mahlzeiten schweigend eingenommen wurden und da Sergej viel zu tun hatte, ergab sich einfach keine Gelegenheit. Musste er einmal einen Botengang zum Hauptkloster machen, fuhr er dort mit seinen Nachforschungen fort.
    Aber etwa sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung sah Sergej den Vater aus einem Fenster auf die schneebedeckte Landschaft schauen. Er näherte sich ihm langsam, weil er den alten Mönch nicht stören wollte, und sah einen Augenblick auf die winterliche Szene, als ob er durch die Augen des anderen blicken wollte. Die Reinheit des Schnees, noch hervorgehoben durch die smaragdgrünen Kiefern und die Büsche mit ihren winzigen roten Tupfen - alles war so perfekt.
    Als Sergej sich aus seiner Verzückung gerissen hatte, hatte Vater Seraphim den Raum schon fast wieder verlassen. »Vater! Vater Seraphim!«, rief Sergej lauter als er eigentlich beabsichtigt hatte.
    Der alte Mönch drehte sich um. »Ja, Sergej?«
    »Ich wollte Sie etwas fragen, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich anfangen soll. Sie sind doch schon lange hier, oder?«
    Seraphim nickte. »Das bin ich allerdings.«
    »Haben Sie vielleicht während all der Jahre einen Mönch oder einen Pilger kennen gelernt, der ein geübter Kämpfer war? Einen Meister der Kampfkünste?«
    Sergej kam sich plötzlich dumm und kindisch vor, als der Starets ihn ausdruckslos ansah.
    »Ein Kämpfer, sagst du? Ein Soldat?«, fragte der Vater stirnrunzelnd. »Mit solchen Leuten habe ich nichts zu tun.« Damit verließ er den Raum.
    Sergej wusste nicht, wen er sonst noch fragen oder was er nun noch tun könnte. Trotzdem arbeitete er fleißig weiter und diente den Mönchen so gut er konnte. Er und die Brüder aßen zwei Mahlzeiten am Tag - meistens Getreidebrei, Brot, Kartoffeln, Gemüse und manchmal mit Kräutern gewürzten Fisch. Dazu tranken sie Kwass, ein aus Brotresten gewonnenes fermentiertes Getränk, und an den

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