Socrates - Der friedvolle Krieger
seine eigene Achse. Seraphim stieß ihn erst gegen die rechte, dann gegen die linke Schulter, dann gegen die Hüften und schließlich gegen den Oberkörper. Sergej wich aus, gab nach und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während die Stöße immer stärker wurden. Auch als Seraphim mit dem Messer nach ihm stach, vermochte er die Balance zu halten.
Dann sagte Seraphim: »Dreh dich um.« Tief unter sich sah Sergej schaumgekrönte Wellen gegen die Klippen donnern. Aber was er jetzt nicht mehr sehen konnte, waren die Stöße, die Seraphim ihm versetzte. Er musste sie spüren und im selben Moment nachgeben. Sobald er sich verspannte, würde er über die Klippe fallen.
Seraphim fing langsam und sanft an, wobei er Sergej immer wieder erinnerte: »Angst ist ein wunderbarer Diener, aber ein schrecklicher Meister. Angst ruft Anspannung hervor. Atme und entspanne dich, du musst deine Angst nicht bekämpfen, du musst nur anders auf sie reagieren.«
Sergej erinnerte sich daran, aus welchem Grund er sein Leben diesem Training gewidmet hatte, als Seraphims Stöße kräftiger und allmählich zu Fausthieben wurden. Dann kam das Messer. Die Klinge stieß gegen seine Schulter, ritzte seine Haut, während Sergej sich wie Wasser bewegte.
Dann war das Messer plötzlich nicht mehr da und Seraphim schlug überraschenderweise gegen Sergejs Schulter. Da er auf diesen plötzlichen Wechsel nicht vorbereitet war, verlor er das Gleichgewicht und fiel. Einen Augenblick lang drehte sich ihm der Magen um, als er völlig orientierungslos in die Tiefe stürzte. Aber dann gewannen seine Instinkte die Oberhand und es gelang ihm, in einer aufrechten Position zu bleiben, indem er wie wild mit Armen und Beinen ruderte. Bevor er mit einem lauten Knall aufs Wasser aufschlug, gelang es ihm noch, die Beine zu schließen. Dann war er im eiskalten Wasser und die Welt wurde still.
Die Wucht des Aufpralls fuhr ihm in Beine, Hüften, Wirbelsäule und Nacken. Während er sich wieder nach oben kämpfte - hin zu Luft und Licht - überprüfte Sergej seinen Körper im Geiste auf Verletzungen. Er konnte alles bewegen, aber sein Bauch hatte sich verkrampft und er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand in die Hoden getreten.
Als er die Wasseroberfläche durchbrach, schnappte er gierig nach Luft. Um sich herum hörte er das Krachen der Wellen, über sich das Kreischen der Möwen. Als er nach oben blickte, sah er hoch auf dem Felsen die kleine Gestalt Seraphims, die nach rechts wies. Er schwamm in die angegebene Richtung und fand einen kleinen Strand - und das keine Minute zu früh, denn er konnte Arme und Beine bereits nicht mehr spüren. Sergej schüttelte sich, um wieder Gefühl in seine gefrorenen Gliedmaßen zu bekommen, und kletterte nach oben.
Seraphim sagte nichts, denn Worte waren nicht nötig. Zitternd vor Kälte erkannte Sergej, wie viel er noch zu lernen hatte.
Eine Woche später machte Sergej gerade ein paar Dehnübungen, als Seraphim ihn plötzlich mit einem Messer attackierte. Der Angriff kam wie aus dem Nichts. Eben noch hatte Seraphim gelächelt und ganz entspannt mit leeren Händen dagestanden, aber im nächsten Augenblick schoss das Messer aufs Sergejs Kehle zu. Sergej riss spontan die Hände hoch und wich dem Messer aus. Es war keine sehr beeindruckende Abwehr, aber immerhin hatte er reagiert ohne zu denken.
»Jeder Mensch reagiert anders«, erklärte Seraphim. »Manche Kämpfer zucken zurück und drehen sich, andere lehnen sich nach vorn oder zurück. Wir fangen mit deiner eigenen instinktiven Reaktion an. Hier, ich werde dir zeigen, was ich meine.«
Mit diesen Worten gab er Sergej das Messer und forderte ihn auf, damit nach seiner Kehle zu stechen. Als Sergej nur einen halbherzigen Versuch unternahm, schlug ihm der alte Mönch das Messer mit einer solchen Wucht aus der Hand, dass es drei Meter weiter in einen Balken eindrang. Dann schlug er Sergej ins Gesicht. »Du sollst mich angreifen, hab ich gesagt!«
Und wieder griff Sergej an, aber dieses Mal ernsthaft. Seraphim lehnte sich zurück und etwas zur Seite und riss die Hände vor der Kehle hoch. »Das war meine erste instinktive Reaktion, als ich damals geprüft wurde«, erklärte er. »Schau, was ich daraus gemacht habe.«
Als Sergej ihn wieder angriff, bewegte sich Seraphim auf dieselbe Weise, fügte aber eine kleine Drehung seines Ellenbogens hinzu und Sergej musste verblüfft feststellen, dass seine Hand mit dem Messer gefangen war. Dann wirbelte Seraphim zurück und Sergej
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