Socrates - Der friedvolle Krieger
musste ohnmächtig zusehen, wie ihm das Messer aus der Hand genommen und auf seine Kehle gerichtet wurde, während Seraphim ihn in einem schmerzhaften Hebel hielt.
»Hast du gesehen? Wir fangen mit der natürlichen Reaktion an und überlassen es dann dem Körper, den Weg des geringsten Widerstands zu finden, um das Problem zu lösen. Es gibt keine falschen Bewegungen. Der einzige Fehler wäre es, sich überhaupt nicht zu bewegen.«
Beinahe jeden Nachmittag kam Seraphim zu Sergej, um ihn zu beobachten und zu unterweisen. Er korrigierte ihn, zeigte ihm neue Möglichkeiten auf, gab ihm neue Übungen und kämpfte mit ihm, um zu sehen, ob er Fortschritte gemacht hatte.
Seraphim zeigte Sergej raffinierte Möglichkeiten, auszuweichen und einen Angreifer mit Pistole oder Säbel zu entwaffnen. Er korrigierte Sergejs Fehler nicht mit Worten, sondern mit Stößen und Berührungen. Auf diese Weise lernte Sergejs Körper auf direkte Weise, ohne den Umweg über Worte oder Konzepte.
Seraphim sprach nur am Ende jeder Stunde. »Bei einem Kampf auf Leben und Tod spielt es keine Rolle, ob dein Verstand brillante Konzepte verstehen oder entwickeln kann. Der Sieg hängt einzig und allein von deinem Körper ab, von dem, was dein Körper weiß, nicht von dem, was dein Verstand weiß. Deshalb üben wir viel und reden wenig.«
Wenn Seraphim danach auf etwas hinwies, musste Sergej es zehn-, fünfzig- oder hundertmal üben. Mit der Zeit nahm Sergejs Training auch einen anderen Charakter an. Sergej übte, wenn er sich stark fühlte, aber auch, wenn er fastete, müde oder krank war.
Seraphim erklärte ihm: »Wenn du auch trainierst, wenn du erschöpft und müde bist, wirst du entdecken, dass du dich selbst unter den schwierigsten Umständen verteidigen kannst. Wenn deine körperliche Kraft und deine Schnelligkeit nachlassen, wirst du lernen, dich auf Entspannung, Gleichgewicht, Timing und innere Kraft zu verlassen.«
Mittlerweile war fast ein Jahr vergangen - ein Jahr, das nicht leicht gewesen war. Wann immer Sergej meinte, zu erschöpft zu sein, und mit dem Training aufhören wollte, kommentierte Seraphim trocken: »Es ist in Ordnung aufzugeben, wenn du einen Berg hinaufläufst - solange sich deine Füße weiter bewegen.«
Das Einzige, was Sergejs Füße am Laufen hielt, war die Erinnerung an Anja und an sein Versprechen, ihren Tod zu rächen.
Immer wenn er an Sakoljew dachte, wurde er vor Ungeduld fast verrückt. Jeder Monat Verzögerung bedeutete, dass unschuldige Menschen sterben mussten. Aber wenn er angriff, bevor er bereit war, hatte er keinerlei Aussicht auf Erfolg. Dieses Dilemma sollte ihn noch lange Zeit beschäftigen.
31
Als Paulina ungefähr acht Jahre alt war - im Dorf war niemand, der genau nachzählte -, war sie noch immer Konstantins Freundin und Verehrerin. Aber sonst hatte sich viel verändert, seit sie ihre Ausbildung beim großen Jergowitsch begonnen hatte. Mittlerweile hatte sie ihre eigenen Interessen und Pflichten und nicht mehr so viel Gelegenheit, mit Konstantin zusammen zu sein. Aber gerade deshalb wurde für sie die gemeinsam verbrachte Zeit umso kostbarer.
Auch Konstantin hatte sich verändert. Er war zu einem aufgeweckten und neugierigen Jungen herangewachsen, dessen scharfer Verstand sich nach Herausforderungen sehnte. Er begriff Dinge, die anderen ein Rätsel waren. Und wenn er etwas nicht sofort durchschaute, forschte er nach, bis er es verstanden hatte. Er bemühte sich, so viel wie möglich von den Erwachsenen zu lernen. Einer der wenigen Männer, der lesen konnte, hatte ihm das kyrillische Alphabet beigebracht, weil ihm die Bewunderung des Jungen schmeichelte. Darauf aufbauend brachte sich Konstantin selbst das Lesen bei. Auf einem Haufen weggeworfenen Beuteguts hatte er mehrere Bücher gefunden.
Eines dieser Bücher - von einem Mann namens Abram Tschudominski geschrieben - handelte von einer Schiffsreise nach einem fernen Land namens Amerika. Wort für Wort begann Konstantin seine eigene Reise durch die Seiten dieses Buches und als er fertig war, las er es noch einmal und dann noch einmal. Eines Tages würde auch er sich auf eine Schiffsreise nach diesem fernen Land begeben. Wie gerne hätte er den Mann kennen gelernt, der eine so wunderbare Geschichte geschrieben hatte.
Um in Ruhe lesen und träumen zu können, hatte sich Konstantin ein Versteck gebaut: eine kleine Höhle im dichten Gebüsch auf der anderen Seite des Baches nicht weit vom Wasserfall entfernt. Später erzählte er Paulina von
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