Socrates - Der friedvolle Krieger
belauschte, und fragte seinen Vertreter: »Kannst du dich an diesen Mann erinnern, diesen Sergej Iwanow, den wir vor ein paar Jahren im Dreck liegen gelassen hatten?« Und als er sah, wie Korolew nachdachte, fügte er hinzu: »Du hast seiner Frau das Genick gebrochen, falls dir das auf die Sprünge hilft.«
Es hatte so viele solcher Szenen gegeben, so viele Gesichter, dass sich der Riese nicht an ein einzelnes erinnern konnte. Aber dieser Vorfall kam ihm irgendwie bekannt vor. Dann fiel ihm alles wieder ein: die Wiese, die schwangere Frau, dieser Iwanow, den der Ataman gesucht, gefunden und dummerweise am Leben gelassen hatte.
Korolew wurde von der wütenden Stimme Sakoljews zurück in die Gegenwart gerissen. »Ich frage dich noch einmal, Korolew, glaubst du, dass er noch gelebt hat, als wir ihn zurückließen?«
»Du hast mir befohlen, ihm am Leben zu lassen«, antwortete dieser. »Und das hab ich getan. Ja, ich glaube, er hat überlebt, obwohl sein Kopf ziemlich stark geblutet hat.«
»Ich habe dich nicht gebeten zu spekulieren, ich will, dass du dich erinnerst!«
Sakoljew war mit der Zeit immer ängstlicher geworden, denn seine Visionen - sowohl im Traum als auch im Wachzustand - hatten stark zugenommen. Er bedauerte zutiefst, dass er Iwanow am Leben gelassen hatte. Es fraß ihn auf, sein Kopf schmerzte und sein Magen drehte sich um, wenn er nur daran dachte. Korolew hatte Recht gehabt: Iwanows Trauer würde sich in Zorn verwandeln und früher oder später würde er kommen, um Rache zu nehmen. Schon jetzt wurde Sakoljew in seinen Träumen von einem Monster namens Sergej Iwanow verfolgt.
32
A m Vorabend des neuen Jahrhunderts war die Einsiedelei von tiefem Frieden erfüllt und die Brüder beteten für das Wohl der Menschheit. Am nächsten Morgen fingen der neue Tag, das neue Jahr und das neue Jahrhundert wie jeder andere Tag auch an. Es war kalt, die Sonne ging bleich auf, die Mönche widmeten sich dem Gebet und Sergej seinem Training.
Dann kam der Frühling und mit ihm die Rückkehr der Zugvögel. Die Bäche schwollen an und auf den Wiesen zeigte sich das erste Bunt der Frühlingsblumen. Die Insel war wie neugeboren. Die Arbeit, die Sergej auf den Feldern, in der Wäscherei oder der Küche verrichtete, verschaffte ihm das Gefühl, eng mit der Gemeinschaft der Mönche verbunden zu sein. Das Dienen war ein ausgezeichnetes Pendant für sein Kampftraining.
Auf diese Weise waren mehr als drei Jahre in der Zeitlosigkeit des Klosterlebens auf Walaam vergangen, wo die Zeit nicht in Jahren, sondern in Jahrhunderten gemessen wurde. Auf der Klosterinsel hörte man Nachrichten von der Boxerrebellion in China. Dort hatten Geheimbünde, die sich den Kampfkünsten widmeten, damit begonnen, Japaner, Russen und westliche Ausländer zu vertreiben. Als Reaktion darauf hatte der Zar Truppen nach Osten geschickt, um die Mandschurei zu besetzen. Als diese Nachrichten im Kloster eintrafen, wurden sie mit einem Nicken zur Kenntnis genommen und dann wieder vergessen.
Sergejs Fähigkeiten nahmen zu, aber was ihm am stärksten auffiel war, dass sich auch etwas anderes verändert hatte: Er war ein ganz natürlicher Teil der Einsiedelei geworden - so wie die jungen Bäume ein Teil der Insel waren. Die Welt, mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt, wusste nichts von einem jungen Mann namens Sergej Iwanow, der endlich gelernt hatte, sich wie ein Kind zu bewegen.
Ein paar Wochen vorher hatte Seraphim ihm erklärt: »Ein kleines Kind reagiert völlig spontan, ohne Pläne oder Erwartungen. Das ist eine gute Art zu kämpfen - und eine gute Art zu leben.«
Wieder einmal war Sergej auf eine Reise gegangen, aber diese hatte ihn zur Unschuld zurückgeführt. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sein körperlicher und geistiger Zustand gewesen war, als er - auf der Suche nach dem geheimnisvollen Meister - auf Walaam angekommen war. Er konnte es noch nicht mit Seraphim aufnehmen, aber immerhin hatte er sich die Fähigkeit erworben, zu sehen, was der Alte tat - und das verzauberte ihn mehr denn je.
Im Lauf des weiteren Trainings brachte ihm Seraphim bei, einzelne Körperteile unabhängig voneinander zu bewegen. »Lass zu, dass sich dein Geist auf eine Sache zu einer Zeit konzentriert, aber gleichzeitig alles wahrnimmt. Entspanne deinen Körper, entspanne deinen Geist. Wenn du offen bist und dich fließend bewegst, kannst du einen Gegner schlagen, der dich von vorn angreift, während du gleichzeitig einen anderen
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