Söhne der Erde 01 - Unter dem Mondstein
Plateaus, aber er war nicht überrascht zu sehen, daß alle Felswände rings um das Tempeltal von Gestalten in schimmernden Rüstungen bewacht wurden.
Stumm und verbissen rannte er weiter.
Vor ihm stieg das Gelände an, der Grat bildete eine scharfe schwarze Linie. Als er ihn erreicht hatte, blieb er für ein paar Sekunden keuchend stehen. Dunkel, gleichmäßig, gewölbt wie eine Schale lag das Tal des Todes vor ihm, ein Ort unendlicher Einsamkeit und Stille, und in der Ferne konnte er den Widerschein der Flammenwände sehen und den kochenden weißen Nebel, wo Feuer und Wasser sich berührten.
Langsam ging er weiter, schauernd in der kalten Dunkelheit.
Rasch und still strömte der schwarze Fluß dahin, im geheimnisvollen Schatten überhängender Felsen entspringend. Woher kam das Wasser? Wohin floß es? Sekundenlang fühlte Charru den fast unwiderstehlichen Drang, zu der Quelle zu laufen, den Weg ins Innere der Felsen zu suchen, doch als er den Kopf wandte, sah er seine Gegner über den Grat kommen wie eine silberne, alles überspülende Woge.
Wohin jetzt noch?
Zwischen den flachen Felsen des Tals konnte er sich nicht einmal verstecken. Durchbrechen? Und dann? Nein, er konnte nicht durchbrechen. Wenn er sein Schwert gehabt hätte! Aber er war waffenlos, sie würden ihn überwältigen und von neuem in den Tempel schleppen.
Nur das nicht!
Dann lieber die ewigen Flammen. Oder der Fluß.....
Der Fluß!
Durch Charrus Körper ging ein Ruck, obwohl er gleichmäßig weiterlief, dem Ende der Welt entgegen. Der Fluß! Der schwarze Fluß, der in die Ewigkeit führte! Dort, wo das Wasser über die Kante stürzte und sich mit den ewigen Flammen vereinigte, waberten seit Jahrhunderten kochende Nebel. Und immer schon, solange er denken konnte, hatte sich Charru von Mornag gewünscht, einmal einen Blick hinter jene weiß und rot glühende Nebelwand zu werfen.
Jetzt würde er es sehen.
Er würde sterben, aber er würde sehen, was hinter den Nebeln lag. Die Ewigkeit, sagten die Priester. Das Reich der Toten. Aber vielleicht war ihre Ewigkeit weniger grausam und engstirnig als ihre Zeit.
Charru blieb stehen.
Das Geschrei in seinem Rücken störte ihn nicht. Er starrte in das dunkle, rasch fließende Wasser, er dachte an seinen Blutsbruder, der den Weg des Feuers nun allein gehen mußte, und er fragte sich flüchtig, ob in jenem Totenreich der Priester die Menschen einander wiedersehen würden.
Lebwohl, Camelo!
Lebwohl, Jarlon von Mornag!
Gerinth würde die Stämme führen, und die Kinder des Tieflands würden leben und anders sein als die Kinder des Tempeltals...
Würde er auch seinen Vater wiedersehen in jenem Totenreich?
Charru schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht wirklich an das Totenreich der Priester, er glaubte auch nicht an die schwarzen Götter. Der Fluß führte sicher nicht in die Ewigkeit - aber vielleicht mußte man sterben wollen, um herauszufinden, wohin der Fluß wirklich führte und was hinter den Flammenwänden lag.
Mit wenigen Schritten stand Charru am Ufer.
Das Geschrei der Verfolger war wie eine Peitsche, die ihn trieb. Ohne zu zögern, ohne nachzudenken watete er ins Wasser, und sekundenlang fühlte er nur noch Erleichterung, weil das Wasser kühl und sanft war und alle Schmerzen auslöschte.
Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich mit weit geöffneten Augen treiben.
Ganz kurz sah er die verzerrten, entsetzten Gesichter der Krieger, dann wurde er weitergespült, an den schwarzen Felsen vorbei, und blickte hinauf in die schimmernde blaue Kuppel. Der Fluß strömte rasch und zerrte an ihm. Jetzt war das Wasser warm, schien seinen schmerzenden Körper wie mit sanften Fingern zu liebkosen. Von neuem drehte er sich, um zu sehen, was vor ihm lag, und sein Herz machte einen Sprung, weil das kochende Chaos erschreckend nah war.
Alles in ihm verkrampfte sich, als er in die Wand aus brodelndem weißem Nebel hineingetragen wurde.
Die Kante!
Flammen und zischender Dampf, Hitze, die seine Haut versengte, der schwindelerregende Sturz ins Bodenlose. Glühende Farben blendeten seine Augen, Zinnober und Karmesin, rote Glut hinter einem Nebelschleier. Er fiel und fiel, stürzte mit dem Wasser des schwarzen Flusses in einen Abgrund, in die Ewigkeit und dann, als ihm die Sinne zu schwinden drohten, war der Sturz plötzlich zu Ende.
Er schwamm.
Er schwamm in einem schwarzen See, hörte das Rauschen der herunterprasselnden Wassermassen und wußte, daß er noch lebte und daß um ihn nicht die Ewigkeit
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