Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
grünem, frischem Frühlingsgras schien Cassian in die Nase zu steigen. Er löste kein Hochgefühl in ihm aus, sondern eine niederschmetternde Erkenntnis.
»Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, meine Tochter wohlbehalten wieder gefunden zu haben. Sie ist so unermesslich, dass ich über das Sakrileg, das du an ihr begangen hast, hinwegsehen und dich nicht zur Verantwortung ziehen werde. Du konntest nicht anders, Werwolf, und das werde ich hinnehmen. Allerdings frage ich mich …«
»Weiß sie es?«
Mica neigte den Kopf zur Seite und schien zu zögern. Er trank und schluckte, die irisierenden Augen auf Cassian gerichtet.
»Natürlich weiß sie es. Zudem ist ihr bewusst, was es für sie bedeutet. Sie bringt es nicht über sich, ihr Versprechen an dich zurückzunehmen, Werwolf. Obwohl sie nach allem, was sie in der vergangenen Nacht sehen musste, jedes Recht dazu hat, die Bindung zu dir zu lösen. Doch sage mir, wo in euren alten Chroniken steht etwas über eine Bindung zwischen Werwolf und dem Kind eines Vampirs geschrieben? Ein sterbliches Menschenkind ist sie – noch. Aber die Frage bleibt bestehen, ob diese Tatsache sich über eine Jahrtausende währende Feindschaft hinwegsetzen kann. Eine Verbindung, die auf den Knochen unser aller Toten gründet, wäre das nicht zuviel des Hohns und der Schmach für beide Seiten?«
Die dicken Wände des unterirdischen Studierzimmers schoben sich auf Cassian zu und drohten ihn zu ersticken. Mica musterte ihn abwägend, die Miene bar jeglichen Hohns, von dem er gesprochen hatte. Florine war von seinem Blut, war ein Abkömmling des ältesten Feindes, den die Werwölfe kannten und den die Menschheit vergessen hatte. Die Wahrheit war niederschmetternd und drückte Cassian die Luft auf. Es war unmöglich, die Einsicht unerträglich. Er konnte nicht mehr atmen und erhob sich, ohne Micas rhetorische Frage einer Antwort zu würdigen. Er benötigte Licht und Luft, er musste raus aus diesem Loch unter der Erde.
Im Vestibül eilte er im Laufschritt auf den Ausgang zu. In einem venezianischen Spiegel, der daneben hing, begegnete er seinen eigenen, von Fassungslosigkeit und Pein verzerrten Zügen. Und direkt dahinter spiegelte sich die Treppe und Florine, die an der Brüstung stand. Sie trug ein leichtes, hellblau gestreiftes Kleid und keine Haube. Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten. Im Spiegel kreuzten sich ihre Blicke. Langsam drehte er sich zu ihr um und blieb unter dem Absatz stehen, auf dem sie stand. Sie sah auf ihn herab, bleich, sommersprossig und zutiefst erschrocken. Gewiss sah sie nicht ihn vor sich, sondern die Bestie. Und zu dieser wollte sie sich nicht bekennen, wie Mica erwähnt hatte. Sie sprach kein Wort, geschweige denn, dass sie herabkam, um für ihn die Arme auszubreiten und den Vampir der Lüge zu bezichtigen. Bewegungslos stand sie da, die Hände so fest um die Brüstung gespannt, dass er ihre Fingerknochen hart und weiß hervortreten sah. Die Tochter eines Vampirs, Enkelin einer Lamia, die Jüngste aus einem uralten Geschlecht konnte nicht seine Gefährtin sein. Die Konsequenz war ihnen beiden bewusst.
Cassian gab sich einen Ruck. »Wir … wir können nicht zusammenbleiben. Niemals. Es ist vorbei, Florine.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, kehrte er ihr den Rücken zu und ging.
Durch die Buntglaskuppel fiel das Mondlicht in silbergrauen Schattierungen, zu stark gedämpft, um den Mosaikboden darunter zu erreichen. Die Augen auf die vagen Strahlen gerichtete, durchquerte Cassian den weiten Gang. Schweiß nässte sein Hemd, während die Harfenmelodie durch sein Blut zog und seine Schritte lenkte. Die Musik des Mondlichts war betörend und brachte Vergessen, strömte durch ihn hindurch und drang aus seinen Poren, um ihn mit einem unsichtbaren Netz zu umweben. Er war bereit, dem Ruf zu folgen. Ein Schatten tauchte vor ihm auf und hielt ihn mit einem dumpfen Knurren auf.
»Gilian, geh mir aus dem Weg.«
Das helle Fell des Wolfes sträubte sich um seinen Hals und auf der Brust und wurde zu einem aufgerichteten Kamm auf seinem Rücken. Seine Aggression war mit Händen zu greifen. Wieder sah Cassian zu den Silberstrahlen auf. Sie schwebten und tanzen in der Luft. Sein nächster Schritt darauf zu entlockte seinem Bruder eine Art Schrei, die Wölfe selten hören ließen. Cassian musste hastig zurückweichen, um dem Schnappen der Zähne zu entgehen, die knapp vor seinem Oberschenkel aufeinander schlugen.
»Gilian, hör auf damit!«
Taub für den harschen
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