Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
gehoben und mit ihr in eine Sommernacht geflohen war, um sie auf einer verlassenen Landstraße zurückzulassen. War dies bereits ein erstes Omen dessen gewesen, wohin ihre Liebe zu Cassian führen würde? Flirrende Hitze war einem frühen Wintereinbruch gewichen. Die Tristesse der lautlos rieselndenGraupel fand in ihr einen Widerhall. Mit dem Ende des Sommers hatte Cassian mit ihr gebrochen, und seit jenem Tag hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Sie musterte die farbenprächtigen Fresken an den Wänden und die vier neuen Grazien, die Madame Chrysantheme in ihren Dienst genommen hatte. Die Namen der vier, die ihr in scheuer Bewunderung begegneten, hatte sie schon wieder vergessen. Natürlich waren die neuen Mädchen über ihr Schicksal informiert. Für sie mochte Florine ein Sinnbild all dessen sein, wonach sie selbst strebten: ein sorgenfreies Leben unter dem Schutz eines reichen Mannes. Niemand im Haus von Madame Chrysantheme kannte die ganze Wahrheit, geschweige denn, dass jemand wusste, um wen es sich bei Mica handelte.
»Ein Kunstwerk ist es geworden«, plapperte Madame Chrysantheme aufgeräumt und kurzatmig zugleich, da dieses Werk ihr den Atem nahm. »Wenige Wochen und sie haben Unglaubliches geleistet. Tag und Nacht wurde daran gearbeitet. Morgen begehen wir die offizielle Eröffnungsfeier. Du bist selbstverständlich eingeladen, Florine. Du und dein großzügiger Gönner gleichfalls. Es wird ein Ereignis, zumal mir zugetragen wurde, dass Louis XV. inkognito zugegen sein wird, um sich mein Haus von innen anzusehen. Ist das nicht unfassbar?«
»Es ist in der Tat bezaubernd«, stimmte Florine zu und gedachte gleichzeitig der drei Menschen, die die neue Pracht nicht mehr sehen konnten, da sie in Gräbern ruhten.
So beeindruckend das Haus geworden war, sie war nicht hier, um es zu bewundern oder die neuen Mädchen kennen zu lernen. Nervös rutschte sie auf ihrem Sitz herum und wünschte sich, Madame Chrysantheme würde sie alle hinausschicken, damit sie unter vier Augen mit ihr reden konnte. Eine Ahnung war in ihr gekeimt, zusammen mit etwas anderem, für das sie eine Bestätigung brauchte. Deshalb war sie hier und fühlte sich fiebrig. Sie brauchte Gewissheit. Unbedingt. Nach einem kurzen Räuspern rückte sie näher zu Madame Chrysantheme auf und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Allerdings bin ich aus einem anderen Grund hier, Madame. Früher habt Ihr bei den Mädchen … ich meine, könntet Ihr nachsehen, ob meine Vermutung zutrifft?«
»Wonach soll ich denn sehen?«
Florine rollte mit den Augen, um auf die Mädchen hinzuweisen, die sich im Halbkreis um sie versammelt hatten. Sybille, Kalinka, Bella und Aimée hatten sich bereits nach vorne gebeugt, um etwas aufschnappen zu können. Madame Chrysanthemes Augen wurden rund, und ihre korallenrot geschminkten Lippen formten sich zu einem von Fältchen eingefassten O. Ihre Handbewegung sollte die Mädchen aus dem Salon wedeln. Die Neuen bauten noch auf Folgsamkeit, während die versierteren Kurtisanen über den Wink hinwegsahen und sich nicht von der Stelle rührten.
»Worum geht es denn?«, fragte Kalinka im Namen der anderen.
»Das geht dich nichts an«, polterte Madame Chrysantheme und bemühte sich gleichzeitig darum, den dunklen Samt von Florines Kleid mit Blicken zu durchdringen.
»Lucas?«, hauchte sie wenig erbaut hervor.
»Natürlich nicht«, zischelte Florine zurück.
»Ah, dann mag es noch zu früh sein.« Um sich zu vergewissern zählte Madame Chrysantheme ihre Finger ab. »Eindeutig zu früh. Soweit reicht meine Erfahrung damit nicht aus.«
Enttäuscht über diese Auskunft rückte Florine von ihr ab.
»Aber ich kenne eine andere Methode, die Aufschluss geben kann. Erprobt habe ich sie noch nicht. Ich kenne jedoch die Vorgehensweise und weiß worauf zu achten ist. Aimée, reiche mir eine der großen Champagnerschalen.«
»Na, endlich! Champagner«, jubilierte Bella und sprang auf. »Wurde auch Zeit, dass wir deinen Besuch gebührend begießen. Wie viele Flaschen, Madame? Eine reicht gewiss nicht aus.«
»Der Champagner bliebt im Keller«, sagte Madame Chrysantheme und drückte Florine eine Champagnerschale in die Hand. Dann erhob sie sich, klatschte in die Hände und trieb die Mädchen vor sich her zur Tür. »Allez, Mädchen, hinaus mit euch!«
Mit sichtlichem Widerwillen trollten sich die Kurtisanen, während Florine das Bleikristall in den Fingern drehte. Sie war sich nicht sicher.
»Soll ich etwa …?«
»Gewiss doch,
Weitere Kostenlose Bücher