Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
treiben. Mica ließ ihr in allem freie Hand. Handwerker und Lieferanten gingen in seinem Haus ein und aus. Stippvisiten bei Madame Chrysantheme, Besuche bei Schneidern, Putzmachern und Juwelieren hielten Florine auf Trab. Und doch fühlte sie sich unausgefüllter als in den Jahren bei Madame Chrysantheme. Die Aufgabe, dieses alte Gemäuer herzurichten, konnte sie nicht wirkungsvoll ablenken. Lustlos stocherte sie in den Austern herum. Über die vergangenen Tage hatten sich die Worte, die sie zu Cassian gesagt hatte, zu einer Wolke hinter ihrer Stirn geballt. Sie schämte sich dessen mehr als ihrer Undankbarkeit gegenüber Mica. Eine Bestie hatte sie Cassian genannt, ein Tier. Aber das war er nicht. Er sah nicht aus wie ein Tier, er hatte sich nicht so angefühlt und trotz seines Ungestüms hatte er sie auch nicht geliebt wie ein Tier. Panik hatte sie dazu verleitet, ihn zu beleidigen. Seit ihrer Ankunft in Micas Haus sann sie über einen Weg nach, sich zu entschuldigen. Aber da sie unter ständiger Aufsicht war, wusste sie nicht, wie sie es anstellen sollte. Saint-Germain würde sie nicht zu Cassian begleiten, und Mica … Sein Lächeln war aufmunternd.
»Wir könnten heute die Oper besuchen oder ein Theater. Oder möchtest du lieber eine nächtliche Ausfahrt unternehmen? Wir könnten auch auf die Glockentürme von Notre Dame steigen. In dieser Höhe ist der Sternenhimmel über Paris prächtig.«
Es war keine Zeit geblieben, irgendwo mit Cassian im Gras zu liegen und die Sterne zu betrachten. Es war für vieles keine Zeit geblieben zwischen ihnen. Entsprechend barsch fiel ihre Antwort aus.
»Der Sternenhimmel kann mir gestohlen bleiben. Du solltest ohne mich die Nacht zum Tage machen und irgendein armes Opfer aussaugen. Das liegt deiner Natur viel näher als ein Besuch der Oper.«
Es war zu spät, sich auf die Zunge zu beißen. Sie war schlichtweg unzufrieden mit allem, zuvorderst mit sich selbst und der Zwickmühle, in die sie sich manövriert hatte.
»Ein Mindestmaß an Respekt kann ich von dir erwarten, Kind.«
Jetzt nannte er sie nicht nur Kind, sondern klang wie ein gestrenger Vater. Es war lachhaft, denn er konnte höchstens Anfang zwanzig sein. Ihm wuchs noch nicht einmal der Schatten eines Bartes.
»Soll ich jetzt Papa zu dir sagen?«
»Das würde mir gefallen, ja.«
Über die Platten und Schüsseln der Speisen starrte sie ihn an. Blut musste eine ungesunde Nahrung sein. Eindeutig war Mica vollkommen von Sinnen, wenn es ihm gefiel, von einer fremden Frau Papa genannt zu werden.
»Mich würde wirklich interessieren, was ich hier soll.«
»Du sollst hier leben und wirken. Das ist alles.«
»Wieso ich? Weshalb ist deine Wahl ausgerechnet auf mich gefallen? Ich verstehe das alles nicht. Du machst keine Anstalten …«
Flugs grub sie die Zähne in ihre Unterlippe. Sie wollte den Teufel nicht beschwören und nichts herausfordern, geschweige denn Mica zu Nachstellungen animieren, die er bisher unterlassen hatte. Seine permanente Gegenwart in den langen Nachtstunden war schon schlimm genug. Er legte seine schlanken Finger aneinander und sah über das Dach seiner Fingerspitzen zu ihr.
»Du hast vieles dulden und entbehren müssen. Du warst ein Findelkind, auf dich allein gestellt, ohne Heim und Familie. Eine erbärmliche Kindheit und eine Unterkunft in einem Bordell, mehr wurde dir nicht geboten. Dir hätte alles Mögliche zustoßen können. Du hast es verdient, verwöhnt und gehätschelt zu werden. Es steht dir zu, Kind.«
Auf diese Erklärung brauchte sie einen großen Schluck Wein. Sie trank, während sie Mica über den Rand des Glases hinweg ansah. Da saß er vor ihr, ein Vampir umgeben von einem Strahlenkranz aus Goldhaar. Sie glaubte zu wissen, worauf er hinauswollte. Hart setzte sie ihr Glas ab.
»Du glaubst, dich durch eine gute Tat von der Sünde deiner Morde reinwaschen zu können. Hoffst du etwa, der Papst würde dich dafür heilig sprechen?«
»Ich war heilig, lange bevor es den ersten Papst gab. Meine Herden lagen vor mir auf den Knien und beteten mich an. Ich war ihr Gott.«
Lange vor dem ersten Papst. Sie sammelte sich und zeigte nicht, wie erschrocken sie war. »Und sie waren die Opfer eines Untoten.«
Mica drehte den Rubinring an seinem linken Mittelfinger und lächelte hochmütig. »Weder bin ich untot, noch töte ich meine Quellen.«
Sie packte den Dekanter und füllte sich ihr Glas bis zum Rande. Ihre Hand zitterte leicht und tiefroter Wein nässte ihre Finger. Quellen nannte er
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