Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
die Menschen, und wenn es nach ihr ging, bestand sie nicht auf Einzelheiten. Was sich ihr offenbarte, klang durchweg widernatürlich. Eine Anmerkung dazu verkniff sie sich. Entgegen ihres Charakters hatten die Umstände sie in der letzten Zeit häufig dazu verleitet, das Falsche im falschen Moment zu sagen. Diese neu entwickelte Eigenschaft verärgerte sie maßlos und hatte ihr bisher nur Ungelegenheiten eingebracht. Sie trank und Mica sprach.
»Der Körper des Menschen ist mit etwa fünf Litern Blut gefüllt. Ich benötige höchstens drei, und dazu bediene ich mich mehrerer Quellen. Sie sterben nicht an meinem Biss. Im Gegenteil, es macht sie glücklich, mir zu dienen. Und wenn du deine Hand an diese Stelle legst«, er legte seine Hand auf seinen Brustkorb, »könntest du feststellen, dass darunter ein Herz schlägt.«
»Dann bist du nicht unsterblich«, folgerte Florine, obgleich es den Vampir nicht weniger unheimlich machte. Im Moment gruselte es sie vor ihm.
»Mein Volk ist ein sehr altes. Unsere Lebensspanne umfasst Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Unsere Herden nannten uns die Ewigen und sie irrten nicht.«
»Aber wenn man dir einen Dolch ins Herz stößt …«
Amüsiert lachte Mica. »Kind, gerätst du in Versuchung? Du müsstest meinen Kopf abschlagen, mein Herz herausreißen oder mich in ein Flammenmeer werfen, damit ich vergehe.«
Die Nacht stand still. Sie saßen sich gegenüber und sahen sich über den Tisch hinweg an. Faszination war das Stärkste, was Florine verspürte. Vor ihr saß ein Wesen, das sich wahrlich für einen Gott halten durfte. Fremdartig, schön und aller Gesetze enthoben, sogar denen der Natur. Ein atmendes Wunder. Er strahlte sie an, als habe er ihren Gedanken erraten.
»Für mich bist du das Wunder.«
Das Netz, das er über die letzten Tage um sie gewebt hatte, schien sich enger um sie zu schließen. Obwohl sich keiner von ihnen bewegte, spürte sie den Sog, der von ihm ausging. Es war nicht das erste Mal, doch war es bisher nie so stark gewesen. Wie lange konnte sie dem widerstehen? Laut kratzten die Beine ihres Stuhls über den Boden, als sie sich erhob.
»Nein! Du bist kein Gott, und ich werde niemals aus freiem Willen deine Quelle sein. Du wirst an mir scheitern, Mica. Du hast mein Leben genommen, es durch Schmuck und Kleider und Tand ersetzt, aber gehören werde ich dir nie. Niemals!«
Sie war den Tränen nahe, und der Ausdruck in Micas Augen war unerträglich. Ihr eigenes Unglück spiegelte sich darin wider, in klarstem Türkisgrün.
»Es gibt nichts, was ich dir nicht erfüllen könnte, Kind.«
»Dann lass mich gehen! Ich muss zu Cassian. Was ich zu ihm gesagt habe, war nicht richtig. Es war gemein. Er soll nicht denken, dass ich …«
»Das ist das Einzige, was ich dir nicht gestatten kann. Dazu liebe ich dich viel zu sehr. Denke nicht länger an den Werwolf. Es ist an der Zeit, dass du erfährst, was uns verb…«
»Aber ich liebe dich nicht!«, rief Florine in seine Worte hinein.
»Du wirst es lernen, deinen Vater zu lieben, mein Kind.«
Der Satz war ein Knüppel, der präzise zwischen die Augen traf und sie benommen machte. Was hatte Mica soeben gesagt? Eine helle, vollkommen geformte Augenbraue bewegte sich in die Höhe. Mica begegnete ihr in einer Mischung aus purem Glück und nervöser Erwartung.
»Ich bin es wirklich«, betonte er.
Gelächter brach aus ihr heraus. Laut, schallend und hysterisch. Es war schlicht unmöglich, dass diese Lichtgestalt von einem Vampir ihr Vater war. Allein ihre Vergangenheit sprach dagegen. Die Kinder mächtiger Männer, und Mica war mehr als das, lebten nicht in einem Findelheim und wurden von einer bösartigen, geizigen Frau nach Lust und Laune geprügelt und verschachert. Das waren Ammenmärchen. Mica erhob sich und kam auf sie zu. Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich zu einem Spiegel.
»Sieh hinein, Mica! Zwischen uns gibt es keine Ähnlichkeit. Nicht die Geringste!«
Ihr Gesicht hatte sich unter ihrem Lachen gerötet. Sie glühte an der Seite eines Mannes, der seinem eigenen Spiegelbild auswich und unter sich sah. Es war nicht zu übersehen, wie sehr sie sich voneinander unterschieden. Eine kleine, kurvige Frau mit glattem, rotblondem Haar, die sich nie für sonderlich anziehend gehalten hatte, und daneben ein Wesen, dessen Schönheit bezwingend in seiner Übermacht war. Irgendwie ein trauriger Anblick, der Florine aufs Gemüt schlug. Sie ließ seine Hand los.
»Ich bin und bleibe ein Findelkind. Wenn es
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