Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
Gift.
Berenike rannte in einer Geschwindigkeit an der steilen Dachkante entlang, die aus ihr eine Sinnestäuschung machte. Die Armbrust lag jetzt wieder in ihren Händen und spuckte brennende Pfeile auf die Larvae herab. Ein Schuss folgte dem nächsten. Die Gestalten lösten sich auf, verbrannte Motten schlugen Funken, versengten andere und fielen in brennenden Bällen zu Boden. Kleine Flammenherde, die die Lawine zum Stocken brachten. Berenike erreichte das andere Ende der Sackgasse und bewältigte die Höhe von sechs Stockwerken, indem sie sich nach unten fallen ließ. Ihre zusammengekauerte Gestalt erstickte jede Hoffnung.
„Berenike! Alles in Ordnung?“
Ihr Körper streckte sich. Im Aufrichten setzte eine Melodie ein. Ein Lied über einen Rosengarten, vorgetragen von einer Stimme unwiderstehlicher Süße. Die Larvae schwenkten ab. Vielleicht glaubten sie, in dieser Stimme die Strega gefunden zu haben, nach der sie so lange vergeblich gesucht hatten. Sie formierten sich neu und waberten auf Berenike zu. Hinter den Larvae war sie nicht mehr zu sehen, und kurz darauf war der Spuk vorüber, der Weg für ihn frei. Berenike war ohne ihn losgerannt, von Larvae verfolgt.
Er stieß sich von der Mauer ab und hetzte ihr nach. Bei aller Niedertracht hatte sie ihm soeben das Leben gerettet. Weshalb, das musste ihm niemand erläutern. Ihr ging es wie ihm um Aurora. Er rannte so schnell er vermochte, jagte um etliche Ecken, schlug einen großen Bogen, um die Larvae zu umgehen, Berenike abzupassen und sich ihr wieder anzuschließen. Sein Atem kam in harten Stößen. Jetzt spürte er das Ausmaß der Kräfte, die Aurora ihm genommen hatte. Sein Herzschlag nahm den rasenden Tritt seiner Füße auf. Er rutschte aus, prallte mit der Schulter an eine Mauer und hechtete weiter. Eine letzte Kurve, und er konnte Berenike wittern. Einige tiefe Atemzüge blieben ihm, ehe sie aus einer Seitengasse hervorkam. Ihr dichtauf folgten die Larvae.
„Ich schulde dir etwas“, rief er ihr zu, als er mit ihr weiterrannte.
Berenike lachte verächtlich auf. „Vielleicht komme ich darauf zurück und verlange für meine Hilfe den ranzigen Pelz eines Alphawolfes.“
Sie erreichten die Via Appia, das Tor kam in Sicht. Es stand weit offen, die Wachen waren nirgends zu entdecken, waren in Schlaf versetzt worden durch Mica oder getötet von Selene. War es der Zauber einer Strega, der ihre Gruppen zu einem exakten Zeitpunkt zusammenführte? War es die Hand der allgewaltigen Mutter Erde, an die Aurora glaubte? Die Fragen erloschen in ihm. Ihr Plan war aufgegangen. Sie kamen aus allen Richtungen. Pico, Tizzio, das Rudel, Selene und Mica, verfolgt von langen Schweifen, die in der Dunkelheit wogten. Keiner von ihnen wurde langsamer, als sie sich zu einer Einheit zusammenfügten und gemeinsam aus dem Tor und auf das offene Land hinausstürzten. Hinter ihnen bündelten sich die Schwärme der Larvae zu einer gewaltigen Flutwelle.
Obwohl der Morgen noch fern war, glaubte Aurora am Horizont einen ersten Lichtschimmer, einen Streifen aus Frost zu erkennen. Er erinnerte an einen Teppich, der sich über der Landschaft entrollte. Er dehnte sich aus, wurde immer länger und verdrängte mit seinem Grau die Nacht. Es war kein frühes Morgengrauen, sondern ein Band aus Motten und Asche, und es kam sehr schnell näher. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre es zu spät gewesen, die Flucht zu ergreifen. Ihr Geist war tief mit dem Erdreich verwurzelt. Für einen Augenblick fürchtete sie, die Besinnung zu verlieren. Es waren so viele!
Dann konzentrierte sie sich auf ihren Herzschlag. Langsame Paukenschläge eines Totenmarsches, in denen das Hexenfeuer angesichts der Bedrohung aufpulste, bereit, zuzuschlagen. Vor dem Kometenschweif der verdammten Seelen rannten kleine Gestalten. Die Zeit zerfiel in unendlich viele Splitter. Wenige Minuten blieben bis zur Entscheidung. Sie klammerte sich an die Gewissheit, dass in jedem Ende der Keim eines Anfangs geborgen war, an den Glauben, dass die Bestimmung sie hierhergeführt hatte, sie auf diese Begegnung hingelebt hatte und sie nicht scheitern konnte. Bestätigend rumorte das Hexenfeuer in ihr, wurde zu einem Schutzschild, das ihre Haut dehnte, in ihren Lungen glühte und nach oben stieg, bis ihre Locken zu knistern begannen. Mit steifen Fingern knöpfte sie ihren Mantel auf und ließ ihn zu Boden fallen. Sie benötigte keinen Schutz mehr gegen die Kälte. Die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen, bot sie sich dem
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