Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
hineinfliegen.
Sie nagte an ihrer Unterlippe. Seit dem Morgen war ihr Gesicht taub. Ihre Glieder schienen einer anderen zu gehören und in ihrem Magen ballte sich der geschmolzene Käse ihrer letzten Mahlzeit und wurde zu einem verhärteten Knoten, der gegen ihre Magenwand und die Lungen drückte. Ruben umfasste ihr Gesicht.
„Ich kann nicht mehr lange bleiben.“
Als müsse er sie daran erinnern. Eine letzte Nacht mit ihm, ein letztes gemeinsames Mahl. Die Stunden waren unaufhaltsam verstrichen, jede einzelne ein Abschied, und nun blieben ihnen nur noch wenige Minuten. Kostbare Kleinodien, die sie bewahren wollte. Keine Magie konnte die Zeit stillstehen lassen. Bald würde nur noch die Erinnerung an die Hitze seiner Lenden bleiben und an geflüsterte Liebesworte. Angst flackerte in ihr auf, als er nach ihren Händen fasste.
„Ich will nicht noch mehr von deiner Kraft nehmen“, wiegelte sie ab.
„Der Lauf steckt dem Wolf im Blut. Es kostet mich keine Kraft, durch Rom zu rennen.“
Sein Kuss schickte etwas Leben zurück in ihre Lippen. Er packte fester zu, und sie konnte den Impuls nicht unterdrücken. Ihr Körper nahm seine Wolfskräfte auf, so wie es schon in der vergangenen Nacht geschehen war. Jede Zelle wurde zu einem Speicher. Seine Kraft schuf Kanäle in ihren Adern, öffnete diese für das Hexenfeuer, das in sie zurück und in das Erdreich fließen sollte. Bei ihren Übungen war es ihr immer gelungen, das Feuer an die allgewaltige Mutter Erde abzugeben, doch diesmal würde sie so viel aus sich herausfließen lassen, um ganz Rom in Brand zu stecken, sollte etwas fehlschlagen. Die Stadt würde nicht zum ersten Mal brennen, doch anders als einst würde aus dem toten Boden nichts auferstehen können. Die Verantwortung drückte sie nieder.
Sacht lösten sich seine Lippen von ihrem Mund. Ihre Hände glitten auseinander, die Handflächen, die Finger zuletzt, mit einem leichten Knistern ihre Fingerspitzen. Einzig ihre Blicke blieben ineinander verhakt. Sie prägte sich seine Züge ein, die Linie seiner Wangenknochen, die Kanten seines Kinns, das klare Graugrün seiner Augen, den Schwung seiner Lippen. All das wollte sie in sich halten, bis zur letzten dunklen Bartstoppel und dem Grübchen in seiner Wange.
„Ich werde bei dir sein, Aurora.“
Tief atmete sie dieses Versprechen ein. Ein weiteres Kleinod in der Sammlung ihrer Erinnerungen. Sie konnte nichts darauf erwidern. Ihre Kehle war eng und sie fürchtete, vor ihm in Tränen auszubrechen. Sein Lächeln sollte sie ermutigen. Er wollte es nicht zu einem endgültigen Abschied werden lassen.
„Auf bald, Süße.“
„Auf bald, mein Geliebter.“
Der Hauch ihrer Antwort kam zu spät. Er war bereits auf dem Weg zu Berenike, die zum Abschied die Hand hob. Sie erwiderte den Gruß und richtete ihr Augenmerk zurück auf Ruben. Die zunehmende Dunkelheit ließ ihn zu einem Schemen werden. Sie fürchtete, ihn zu schnell aus den Augen zu verlieren. Noch konnte sie ihn sehen, seine langen Schritte verfolgen. Immer weiter entfernte er sich von ihr. In ihrer Brust ballte sich ein Aufschrei, stieg in ihren Hals, verstopfte ihre Kehle. Sie konnte nicht mehr atmen. Ein Zittern zog durch sie hindurch. In ihrem Kopf dröhnte nur ein Gedanke.
Komm zurück! Nimm mich mit dir, weit fort von hier!
Obwohl sie sich bezwang und stumm blieb, schien er es vernommen zu haben. Abrupt wirbelte er herum, machte einige Schritte zurück auf den Hügel zu. Trotz der Entfernung sah sie das Glimmen in seinen Wolfsaugen. Er war bereit, mit ihr zu fliehen. Sogar jetzt noch. Sie wartete, hoffte und fürchtete, er würde ihr die Entscheidung abnehmen. Was scherten sie die Larvae? Ein Werwolf und eine Hexe der Lüfte konnten schneller als jeder andere durch die Nacht türmen. Das letzte Aufbegehren gegen ihr Schicksal fiel in sich zusammen. Sie hatte es selbst gewählt und wollte sich nicht für den Rest ihres Lebens vor einem Fluch, einem Feind und auch ihrer eigenen Feigheit verstecken. Sie straffte sich und winkte ihm ein letztes Mal zu. Auch er winkte, wandte sich ab und ging mit Berenike davon.
Die Nacht saugte die beiden auf. Aurora stellte sich vor, wie sie immer kleiner wurden. Zwei Punkte, die sich den Kuppeln von Rom näherten und sie zurückließen. Sie war auf sich gestellt. Ihre einzigen Gefährten waren nun der Winter und einige einsame Schneeflocken. Der Wind legte sich. Es gab keine Bäume und Sträucher, die rascheln konnten, keine Eule, die ihren Ruf erschallen ließ.
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