Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
keine anderen, und er kannte auch keinen Vampir, der so stark von Größenwahn getrieben sein konnte, um sich mit Selene vereint zu haben. Die letzten Geburten aus dem Schoß einer Lamia lagen an die fünfhundert Jahre zurück.
„Wovon sprichst du eigentlich, Mutter?“
Ihr Zustand war eine Katastrophe. Gewalt zündete in ihren Smaragdaugen und sie drohte erneut, in Rage zu geraten. Ihre Hand schnellte vor, packte sein Jabot und riss daran.
„Ich spreche von Berenike. Meiner Tochter! Ist das so schwer zu verstehen?“
In der Tat, das war es. Er bog ihre Finger auseinander. „Ich habe eine Schwester? Seit wann?“
„Ich weiß nicht, wo sie ist“, sprudelte Selene hervor. Da er ihr sein Jabot entzogen hatte und Abstand hielt, zerrte sie an ihren Haaren. „Sie ging auf die Jagd und kehrte nicht zurück. Ihre Armbrust habe ich gefunden, auf der Piazza di Trevi. Wozu eine Armbrust? Sie braucht die Waffe nicht für ihre Quellen. Tizzio war es. Die Werwölfe haben sie. Sie schleichen um mein Heim herum.“
Er hatte eine Schwester. Eine neue, reinblütige Lamia war geboren worden. Das musste er erst einmal verdauen.
„Wie alt ist sie?“
„Fast noch ein Kleinkind. Vierunddreißig Sommer zählt sie. Und sie wurde entführt.“
Vierunddreißig war nicht das Alter eines Kleinkindes, obgleich es sehr jung war. Da er selbst in diesem Alter bereits eine Gefahr für die Alphawölfe der Sippen gewesen war, hielten sich seine Sorgen in Grenzen. Zunächst einmal musste er den Verdacht von Tizzio di Mannero ablenken. Schließlich war nichts erwiesen. Ohnehin war es unvorstellbar, dass das Oberhaupt der roten Wölfe Selene herausgefordert hatte, indem er sich an ihrer Tochter vergriff. Sie befanden sich auf dem Boden einer Lamia. Inmitten ihres Reviers würde kein Werwolf ohne zwingenden Grund auf den Gedanken verfallen, sich an einem ihrer Kinder zu vergreifen.
„Du musst dich beruhigen. Ich bin nun hier, bei dir.“
„Ja, du bist hier. Tizzio wird diesen Übergriff bitter bereuen.“
Selene wollte ihr ganz eigenes Blutbad anrichten und damit wäre sein Streben nach Frieden dahin. Wie sollte er Florine und Celeste schützen, wenn in Europa neue Schlachten aufflammten? Seine Gedanken überschlugen sich.
„Wann ist sie verschwunden?“
„Vor vier Nächten. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Außer einem zerborstenen Pfeil und ihrer Armbrust habe ich nichts gefunden. Sie hat versucht, einen Werwolf zu töten, und Tizzio hat Rache genommen und sich an ihr vergriffen. Ich bringe ihn um! Jeden Einzelnen werden wir umbringen, Mica.“
Bedächtig ging er auf sie zu, legte einen Arm um ihre Schultern. Nichts an ihrer feingliedrigen Gestalt verriet ihre Kraft. Das tiefe Grollen einer Raubkatze zog durch den Garten.
„Mutter, lass uns ins Haus gehen und nachdenken.“
„Womit, glaubst du, habe ich mich beschäftigt? Unentwegt habe ich nachgedacht. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann … dann …“
Mit geballten Fäusten löste sie sich von ihm, außerstande, ihre Drohung in Worte zu kleiden. Kurz entschlossen nahm er ihren Arm und führte sie zurück in die Villa. Das erhellte Atrium empfing sie. Licht entzündete ihr rotes Haar, verwandelte ihren grünen Blick in pures Gift. Er musste sie zurückholen aus dem Wahnsinn. Leise redete er auf sie ein.
„Meine Schwester ist kein Kleinkind. Sie ist alt genug, um auf sich selbst zu achten und wäre nicht blindlings in eine Falle gelaufen. Komm zu dir, Mutter. Es kann nicht Tizzio di Mannero gewesen sein.“
„Sie lebt, ich weiß es. Sie ist hier in Rom.“
Er lächelte zuversichtlich. „Gut, das ist ein erster Anhaltspunkt. Sie lebt und wir werden sie finden. Kam es zu einem Zerwürfnis, weswegen sie dir grollen könnte?“
„Ich überwerfe mich nicht mit meinen Nachkommen.“ Damit hatte es sich mit den Regeln, an die eine Lamia sich gebunden fühlte. Nach einer nachdenklichen Pause fuhr sie fort. „An dem Abend ihres Verschwindens erreichte uns deine Nachricht. Begeistert über deinen anstehenden Besuch war sie nicht.“
„Schon ist ein Grund gefunden. Sie ist ausgebüxt.“
Selene versteifte sich. „Was redest du da? Du bist ihr Bruder, mein goldener Sohn. Sie liebt dich. Von jeher hat sie dich bewundert. Ich habe viel von dir erzählt.“
„Da haben wir es.“
Selene glitt auf ihn zu, die Zähne gebleckt. Ihre Fänge waren ebenso klein wie seine. Ihre Blutquellen gewahrten die Spitzen von der Schärfe geschliffener Diamanten erst, wenn sie durch ihre
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