Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
Zugang verwehrte. Die nächsten Nachbarn waren weit entfernt, und doch war die Raffgier römischer Diebe nicht groß genug, um die natürliche Baumgrenze zu überschreiten. Zwielichte Charaktere wussten, von welchen Orten sie sich fernhalten mussten. Die Villa auf dem Aventin war der römischen Antike nachempfunden, erbaut auf dem Fundament eines römischen Tempels. Über den Buchsbaumhecken, Sträuchern und Laubengängen des Grundstücks lag tiefe Stille. Ein Ruch von Heiligkeit einer gestürzten Göttin. Noch immer besaß Selene Anbeter. Sie harkten die Wege, pflegten den Garten und hüteten das Haus.
Im Schatten eines Laubengangs hielt Mica inne. Der Weg war gesäumt von Skulpturen auf mannshohen Sockeln und führte in weichen Kurven auf die Residenz seiner Mutter zu. Gebäude und Garten schienen der Zeit enthoben, aus der Vergangenheit hineingesetzt in die Gegenwart. Im Säulengang brannten Lichter. Er wappnete sich. Eine Begegnung mit einer Lamia war selten einfach. Tödlich für ihre Blutquellen und Feinde, erdrückte sie ihre Nachkommen mit ihrer Mutterliebe. Peinlichkeiten eingeschlossen. Tief sog er den Atem ein. Es war zu spät im Jahr, um den Duft von Lavendel, Myrrhe und Rosen einzufangen. Stattdessen nahm er mit der kalten Nachtluft die salzige Brise des Meeres auf. Da war sie. Selene. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte er sich um. Er kam nicht mehr zum Ausatmen.
Mit allem hatte er gerechnet, außer mit einer Fratze, die auf ihn zuschoss, einer Lamia, die ihn rammte und zu Boden warf. Sein Aufprall war hart. Im letzten Augenblick wehrte er die Faust ab, die seinen Brustkorb zerschmettern wollte. Der Zischlaut einer Schlange sirrte durch die Nacht. Selene griff ihn an. Seine eigene Mutter! Noch während ihm das bewusst wurde, stieß er sie von sich, kam auf die Füße und wurde sofort wieder angegriffen. Diesmal konnte er sich auf den Beinen halten. Sie nutzte sein Zögern, umschlang ihn und öffnete den Mund. An den Spitzen ihrer Fänge klebte die Feuchtigkeit ihres Gifts. Lamia machten keinen Unterschied in der Wahl ihrer Feinde. Aber er war ihr Sohn! Hastig riss er den Unterarm hoch und drückte ihn gegen ihre Kehle. Ihre Haut schimmerte wie das Innere einer Muschelschale. Giftgrün glitzerte es aus zu Schlitzen verengten Augen.
„Selene?“, keuchte er. „Mutter! Ich bin es. Mica.“
Ihre unbarmherzige Umschlingung lockerte sich. Er stieß sie von sich.
„Mica?“, fragte sie, als sei ihr sein Name neu.
„Wer sonst? Du hättest mich beinahe gebissen, verdammt!“
Fahrig strich sie ihr Haar zurück. In der Dunkelheit waren ihre Kupferlocken nahezu schwarz. „Ich hielt dich für einen Werwolf. Seit einigen Nächten streifen sie in der Nähe herum und beobachten meinen Hort.“
„Du hast mich mit einem Werwolf verwechselt?“
Eine Lamia musste ihre Nachkommen nicht sehen, sie erkannte sie am Geruch. Mit Selene war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Weder empfing sie ihn mit einem Freudenschrei noch schloss sie ihn in eine Umarmung. Nicht, dass die Aussicht auf endlose Liebkosungen ihn begeistern konnte, aber dieser Empfang war beängstigend. Sie schien ihn schon wieder vergessen zu haben, blickte sich um, lauerte darauf, ihren Angriff auf jemand anderen zu lenken. Nur war außer ihm niemand in der Nähe.
„Was ist los mit dir?“, fauchte er sie an.
Das Glimmen ihrer Katzenaugen machte den Eindruck von Unschuld und Tugend zunichte. Unter der Oberfläche von Verwirrung und Berechnung glaubte er, Wahnsinn zu erkennen und machte impulsiv einen Schritt zurück.
„Sie ist fort. Ich kann sie nicht finden. Überall habe ich gesucht. Überall. Es waren die roten Wölfe.“
Ihre Worte verkamen zu einem verwischten Knurren. Ohne eine Ahnung zu haben, von wem sie sprach und was diesen Irrsinn ausgelöst hatte, konzentrierte er sich auf das, was er herausgehört hatte. Die roten Wölfe. Die letzten blutigen Vorfälle in Rom lagen lange zurück. Tizzio di Mannero schlug einen weiten Bogen um Selene und diese gab vor, von der Existenz einer Alphasippe auf ihrem Territorium nichts zu wissen. Es wäre fatal für sein Anliegen, sollte ausgerechnet jetzt der alte Kampf erneut beginnen.
„Wer ist fort, Mutter?“
Sie sah ihn an, ein einziger Vorwurf. Offenbar der Situation hilflos ausgeliefert. Das konnte nicht sein. Eine Lamia und Hilflosigkeit passten nicht zusammen.
„Mein Kind! Es geht um mein Kind“, fauchte sie ihn ungeduldig an.
Welches Kind, verdammt? Er war ihr Kind, es gab
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