Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
innere Stimme wollte sie auf die Straßen von Rom hinauszwingen. Die passende Kleidung lag bereit. Contessina hatte ihr eine vollständige Herrengarderobe gebracht.
Aurora hatte den Kleiderstapel ignoriert und das Nachthemd gewählt. Mithin das unansehnlichste Stück, das sie in ihrer wenigen Habe gefunden hatte. Damit missachtete sie alle in sie gesetzten Erwartungen. Sollte Tizzio einen weiteren Tobsuchtanfall erleiden, ihr war es gleich. Was ihr nicht gleichgültig bleiben konnte, war das Grimoire.
Nervös kaute sie auf ihrem Daumennagel. Das Buch war nicht nur eine Ansammlung von Wissen. Die Schriften seiner Besitzer hatten es über die Jahrhunderte zum Leben erweckt. Es enthüllte seine Geheimnisse nach eigenem Gutdünken. Daher musste es blind aufgeschlagen werden, nur dann löste es Rätsel, gab Antworten. Oft genug war sie auf leere Seiten gestoßen, die alles bedeuten konnten. Der Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Der Frager war einer Antwort noch nicht würdig. Die Frage selbst besaß keine Bedeutung. Der Gründe gab es so viele wie Seiten. An diesem unheilvollen Tag war Aurora immer wieder auf derselben Seite gelandet. Unmissverständlich war die Antwort des Grimoires und hatte tiefes Entsetzen in ihr hervorgerufen. Die beiden eng beschriebenen Seiten konnten nicht die Lösung sein. Fest presste sie die Fäuste an ihre Oberschenkel.
Seit dem Bestand ihrer Gilde hatte es keine schlechter ausgebildete Strega gegeben. Zwanzig Jahre war sie alt und wusste nichts über ihre Gaben, geschweige denn, wie sie anzuwenden waren. Dennoch wollte das Grimoire ausgerechnet sie, die unwürdigste von allen, zu einem katastrophalen Schritt bewegen. Das Hexenfeuer war eine Waffe, die ihres Wissens nach noch niemand benutzt hatte. Damit zu experimentieren war den Meistern vorbehalten. Weshalb stieß das Grimoire sie darauf? Sollte das Buch nicht wissen, dass sie der letzte und schwächste Spross ihrer Gilde war, ungeübt selbst in den leichten Zaubern? Sie konnte kein Feuer lenken, das heißer brannte als jede natürliche Flamme. Selbst ihr Ahne, Sebastiano, der Bucklige, von dem der Eintrag stammte, warnte eindringlich vor der Handhabung dieser Waffe. Das Hexenfeuer verwandelte fruchtbaren Boden in eine Einöde. Es verschonte selbst diejenigen nicht, die es hervorriefen. Aurora konnte davon ausgehen, dass es ihr in einer gewaltigen Explosion um die Ohren fliegen würde. Sie war eine Hexe der Lüfte. Was, bitte schön, hatte sie mit dem Element des Feuers zu schaffen?
Ihre Handflächen waren feucht geworden. Sie wischte sie am Nachthemd trocken. Niemand wusste von ihrer Entdeckung. Solange sie sich niemandem anvertraute, konnte ihr keiner dreinreden oder sie in Versuchung führen. Denn versucht war sie. Allerdings wollte sie ihrer Neugierde diesmal nicht nachgeben. Ihre Lippen würden versiegelt bleiben und damit basta. Der Vorsatz wurde von der Stimme durchkreuzt. Sie wisperte in ihrem Kopf, von einem unangebrachten Selbstvertrauen erfüllt.
Das Grimoire begeht keine Fehler. Es hat dich erwählt. Du darfst nicht ausweichen, du musst es wagen
.
Sie krümmte den Rücken, bohrte die Finger in die Schläfen, um die Stimme auszuschalten.
In dieser Haltung wurde sie von Ruben ertappt. Sichtlich alarmiert hielt er auf der Schwelle inne. Seine Augen huschten von ihr zum Bett und wieder zurück. Anders als der Wolf zeigte der Mann statt Zutrauen eine Zurückhaltung, die an Abweisung grenzte. Aurora löste ihre verkrampften Finger und zwang sich zu einem treuherzigen Lächeln. Niemand durfte von ihrem innerenAufruhr erfahren, vor allem er nicht. Ruben de Garou hatte etwas an sich, das sie zu Unbedachtheiten verleitete. In seiner Gegenwart war sie sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Seinetwegen war ihr ein Hexeneid über die Lippen gekommen. Vor ihm hatte sie sogar über den Tod ihrer Eltern geredet, und das, nachdem sie nie wieder davon gesprochen hatte, seit dem Tag, an dem Tizzio ihr davon erzählt hatte.
Ruben schien unschlüssig, ob er hereinkommen oder vor ihrem Nachthemd und dem aufgeschlagenen Bett Reißaus nehmen sollte.
„Keine Sorge, ich brauche nicht viel Platz. Du wirst nicht einmal merken, dass ich da bin. Eine Strega ist nicht ansteckend.“
Den Zusatz konnte sie sich nicht verkneifen. Krötenspucke, sie war schließlich keine Aussätzige. Es gab keinen Grund, sie so anzustarren. Er senkte den Kopf und kam herein. Sein Haar fiel nach vorn, verbarg den Ausdruck seiner Miene. Wortlos schlug er einen Bogen um
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