Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
Überraschung dieses Abends. Ob es an der Dunkelheit, dem Sternenhimmel oder der klaren Luft lag, Aurora war eine andere geworden. Der bittere Hauch ihrer Furcht überlagerte nicht länger ihren frischen Duft. Ihre Unruhe war verflogen, und ihre Augen glänzten erwartungsvoll. Eine halbe Stunde hatten sie bis hierher gebraucht. Unterwegs waren ihre Schritte beschwingter geworden. Vielleicht täuschte er sich, und es lag nur an dem Wippen ihrer Locken. Die Hände in die Hüften gesetzt, sah sie an der hohen Mauer nach oben. Nein, unbeschwert war sie nicht. Eher wachsam. Kleine Dampfwolken stiegen von ihren Lippen auf.
„Die Toten liegen nun einmal auf einem Friedhof, und dieser ist weit entfernt von Tizzios Palazzo. Wir kommen aus der falschen Richtung. Das Tor liegt auf der anderen Seite.“
Das hätten sie leicht vermeiden können, aber sie hatte aus ihrem Ziel ein Geheimnis gemacht, ihn hierher geführt, ohne ihm das Gefühl zu vermitteln, gelenkt zu werden. Subtil. Er sollte nicht vergessen, wer neben ihm stand. Sie war eine Hexe, und deren Durchtriebenheit war grenzenlos. Mehrfach hatte sie ihn schon verblüfft. Selbst ihre Gegenwart an seiner Seite, das Wagnis, das sie eingegangen war, blieb ihm unverständlich. Schließlich hatte sie ein gewaltiges Theater veranstaltet, um eben nicht dort zu stehen, wo sie nun stand.
„Willst du umkehren?“
„Nein, es fühlt sich richtig an.“
Auf ihrem Weg durch das nachtschlafende Rom hatte sie diesen Satz ständig wiederholt. Sie redete gegen einen inneren Zwiespalt an, bei dem er ihr nicht helfen konnte. Hell richteten sich ihre Augen auf die Mauer. Er glaubte, Berechnung darin zu erkennen. Kalkül konnte ihr nicht fremd sein. Immerhin hatte eine Ahnin ihre Schmerzensschreie im Feuer des Scheiterhaufens in einen Fluch umgewandelt. Dazu gehörte einiges. Doch worauf kalkulierte sie?
„Denk daran, Ruben, sollte mir etwas verdächtig vorkommen, rennen wir, so schnell wir können.“
Deswegen also ihre Frage, ob er schnell sein konnte. Sie fürchtete nicht, dass er sie im Stich ließ. Ihr Vertrauen würde es einfacher machen, sie zu schützen.
„Alles klar“, stimmte er zu.
Für seine Bereitschaft, ihr die Führung zu überlassen, wurde er mit einem Lächeln belohnt. Es verlieh ihrem Blick eine unerwartete Sanftmut. Hölle, wollte sie ihn etwa behexen? Den Verdacht hegte er, seitdem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Ständig ersann sie neue Taktiken, um eine Bindung zu ihm herzustellen. Durch Worte, Schwüre und Verständnis. Ihr Hexeninstinkt hatte sie sogar veranlasst, den Wolf zu streicheln. Sie wusste, dass er die Berührung einer Frau in seinem Fell liebte, denn sie kam viel zu selten vor. Genau genommen war es bisher noch nie vorgekommen. Keine Frau war naiv genug, ihn mit einem großen Hund zu verwechseln. Ausnahmslos waren sie vor dem Wolf zurückgeschreckt, selbst wenn er auf dem Bauch auf sie zurobbte. Einzig Kinder hatten ihn schon gestreichelt, aber das war nicht dasselbe.
„Hilf mir auf die Mauer. Ich möchte einen Blick auf den Friedhof werfen.“
Sie reckte die Arme, ohne die Mauerkante greifen zu können. Er trat hinter sie und umfasste ihre Taille. Sie war so schmal, dass sich seine Fingerspitzen beinahe berührten. Es brauchte wenig Kraft, um Aurora anzuheben, sie wog so gut wie nichts. Die Menschen behaupteten, eine Hexe sei leicht wie eine Feder. Scheinbar lagen sie damit nicht ganz falsch. Der Wolf in ihm protestierte, als er von ihr abließ, sobald sie sich an der Mauer festhielt. Eine unverständliche Regung, denn seinem Beuteschema entsprach sie nicht. Er zog kleine, kurvige Frauen vor. Der Wolf teilte seine Ansicht diesmal nicht. Er wollte Aurora nah sein. Ruben schob seine Wolfsinstinkte beiseite. Frauen konnten schnell zu Stolpersteinen werden. Der Baron von Rützelsperger in Wien reihte sich in eine Schar erboster Gatten, Väter und Brüder ein. Nicht auszudenken, was eine Hexe an Unannehmlichkeiten heraufbeschwor, selbst wenn sie keine Verwandten besaß. Seine Wolfstriebe hatten zu schweigen.
Allerdings stellte er gerade fest, dass Körperkraft nicht in ihrer Magie vorgesehen war. Aurora bemühte sich vergeblich, ein Bein über die Mauer zu schwingen. Sie besaß die längsten Beine, die Ruben je gesehen hatte. Sein Blick konnte sich kaum davon loseisen.
„Krötenspucke!“, keuchte sie angestrengt.
Der Fluch brachte ihn zum Schmunzeln. Aurora besaß ein geringes, aber seltsames Repertoire an Schimpfworten. Ehe sie
Weitere Kostenlose Bücher