Soehne des Lichts
dieser Gelbkittel ahnte, wie ihm geschah. Sie musste bloß den Panther in sich suchen, und sie konnte ihnen allen den Kopf abbeißen, die Kehlen herausreißen, ihr Blut trinken ... Das war ihre Lektion. Lernen, den Hass zu bannen, den Zorn zu unterdrücken. Denn sie würde alles zerstören, wenn sie nun handelte. Sie würde den Erzpriester töten müssen, der gerade Ketten durch Shoras Hand- und Fußfesseln zog. Sie würde Ilat töten müssen, Thamars Rache verhindern und einen Bürgerkrieg in Roen Orm entfesseln. Sie würde unschuldige Sonnenpriester töten müssen, Soldaten, vermutlich auch Bedienstete, die im Laufe des Kampfes in den Saal geraten würden. Sie würde Alanée töten müssen, die versuchen würde, sie aufzuhalten. Es würde ihr eigenes Leben kosten und Shora nicht retten, denn Inani besaß nicht die Macht, gegen so viele Ti-Priester anzukämpfen. Shora wollte zudem nicht gerettet werden, was das Schrecklichste dabei war.
Inani atmete tief durch, sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. Alanée sprach zu ihr, doch sie verstand nichts, das Blut rauschte zu heftig in ihren Ohren.
Beherrsche den Zorn ... Nur dann würde sie eine wahre Hexe sein. Es war leicht, als Panther zu kämpfen. Es besaß Vorteile, als Kyphra zu denken, frei von allen Emotionen, überlegen, kühl, in perfekter Balance zwischen Instinkt und Logik. Aber das hier betraf ausschließlich sie, Inani, als Mensch, der sie war. Sie musste ihre Mutter der Folter und dem Tod überlassen, um das Überleben aller anderen im Raum zu sichern, ihrem eigenen eingeschlossen.
„Mutter “, hauchte sie endlich, als die eiserne Faust um ihr Herz sich gerade genug löste, um ihr dieses eine Wort zu erlauben. Hilflos streckte sie die Hand nach der Frau aus, die sie sie so sehr liebte. „Mutter ...“
Überwältigt von Schmerz, erstickt von dem Versuch, nicht zu schreien, nicht zu töten, nicht in Blut zu ertrinken, sank Inani in sich zusammen. „Mutter ...“
Sie konnte lediglich Momente bewusstlos gewesen zu sein, obwohl es sich wie Jahre anfühlte. Als Inani die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch, wie Shora gewaltsam aus dem Thronsaal getrieben wurde. Rynwolf stand in der Nähe des Throns, der dunkelhaarige junge Geweihte, der Inani abgeholt hatte, war an seiner Seite. Alanée sprach mit erhobener Stimme, ihr Gehabe das einer ältlichen, höchst empörten adligen Dame – nach wie vor die sicherste Methode, mit Männern in Roen Orm umzugehen. Erst jetzt fiel Inani auf, wie alt Alanée wirkte. Wohin war ihre Jugendlichkeit verschwunden? Schon immer war das Haar der Hexe silberfarben gewesen, doch ansonsten hatte nichts den Eindruck von Alter vermittelt. Nun aber durchzogen vielfältige Linien das sonst so ebenmäßige Gesicht, die Finger und Handgelenke schienen geschwollen und leicht verkrümmt. Sie alterte, verfiel regelrecht. Zu viele unwichtige Details sprangen Inani an, verwirrten ihren bereits völlig verstörten Geist. Sie blieb unbeweglich auf dem kalten Fußboden liegen, starrte auf die kunstvollen Mosaiken, auf denen ihr Kopf ruhte, betrachtete die Stickereien der Priesterroben, der Wandvorhänge, von Ilats königlicher Robe ... Alles, alles nahm sie wahr, um sich nicht der erdrückenden Gegenwart stellen zu müssen. Dem, was sie hatte geschehen lassen müssen. Dem Wissen, was daraus folgen würde.
Als ihr Name fiel, lauschte sie der Tirade, die Alanée über die Männer ergoss:
„Sie ist ein gutes Mädchen, ich habe gesehen, wie sie die Statue der Großen Mutter geküsst hat! Los, gebt ihr ein Ti-Siegel, sie wird sich nicht daran verbrennen, ich schwöre! Sie hat keinen einzigen Gottesdienst verpasst, das weiß ich! Nie hat sie im Namen Gottes geflucht oder unsittliche Dinge mit Schlangen getan! WIE KÖNNT IHR ES WAGEN ZU BEHAUPTEN, DAS KIND WÄRE AUCH EINE HEXE? Ich habe sie vom Tag ihrer Geburt an mit aufgezogen, ihre Mutter war ja kaum da für sie, hat sie nicht einmal gestillt. Ach, wenn ich früher begriffen hätte, was das bedeutet! Ich dachte, es wäre Trauer über des Vaters Tod. Die Wahrheit ist wohl, meine Schwester – MEINE EIGENE SCHWESTER! – hat den armen Mann vermutlich selbst ermordet, Ti habe ihn selig. Inani ist so rein wie ein Blütenblatt, und wer anderes behauptet, muss an mir vorbei!“
Mit betäubtem Desinteresse erkannte Inani, wie sehr Alanée dieses Schauspiel genoss. Wen glaubte sie, beeindrucken zu können? Wenn die Priester jemanden mitnehmen wollten, würde
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