Soehne des Lichts
Stunden war es her, dass man Shora aus dem Thronsaal geschleift hatte. Diese Eile war nicht weiter verwunderlich, war es doch die erste echte Tochter der Dunkelheit, dazu eine erfahrene Hexe, die man seit Jahren gefangen hatte. Niemand wollte, dass sie befreit werden konnte. Überall standen Sonnenpriester und beteten halblaut vor sich hin. Inani spürte, was die Söhne des Lichts damit bewirkten: Sie blockierten die Nebelpfade mit Feuermagie. Keine Hexe konnte auf diesem Weg rein oder raus aus der Stadt. Andere Geweihte flehten Tis Segen auf den Scheiterhaufen herab, denn machtvolle Pya-Töchter konnten die Flammen beschwören, um mit dem Rauch zu reisen, als wäre es ein Nebelpfad.
Als Inani nicht mehr näher herangehen konnte, ohne den Ring von Priestern zu durchbrechen, blieb sie stehen. Ohne zu fühlen, zu denken, stand sie still und wartete. Die aufgewühlte, brodelnde Menge hinter ihr nahm sie ebenso bloß am Rand wahr wie den Nieselregen, der kalt über ihren empfindungslosen Körper rann.
Rynwolf trat auf den Platz, eindrucksvoll in seiner hell strahlenden Robe und dem goldenen Sonnenzeichen auf dem Kopf. Alles verstummte. Dann hob er die Hand, und man brachte die Gefangene zu ihm.
Inani brauchte mehrere Sekunden, um in dieser zerbrochenen, kahl geschorenen Gestalt ihre Mutter zu erkennen. Shora trug ein graues Totenhemd, das an vielen Stellen von Blut besudelt war, und schleppte schwer an ihren Eisenfesseln. Sie ging gebeugt, von der Folter ebenso wie von der Last der Jahre, die sich so plötzlich auf ihre Schultern gelegt hatte: Es war eine uralte Greisin, die man zum Scheiterhaufen schleifte. Inani stellte sich das Entsetzen und Unverständnis der Sonnenpriester vor, als sie mit angesehen hatten, wie die schöne junge Frau verfiel. Ein einsames Lächeln zuckte in ihrem Mundwinkel. Mit einem Mal hob Shora den Kopf, ihr suchender Blick irrte über die Menge, bis sie Inani fand.
„Ich bitte nicht um Vergebung, Tochter meines Herzens. Es war unumgänglich. Du musstest lernen, dass Macht allein nicht genügt, um die Welt zu beherrschen. Du besitzt so viel Kraft, mehr, als du bislang begriffen hast. Gleichgültig, wie viel mehr es noch wird, du kannst das Schicksal nicht ändern. Das können nicht einmal die Götter. Verstehe, Inani, und du wirst zur Königin, zur Herrscherin über alles, was auch immer du begehrst. Das Reich der Hexen, Roen Orm, die Welt liegt dir zur Füßen.
Du bist die Klinge Pyas, geboren, um den Lauf der Welt zu wenden. Geboren, um Gleichgewicht zu erschaffen. Dies ist dein Schicksal.
Leb wohl, Inani. Es war eine Ehre, dich zu lieben.“
Der Moment verging. Rynwolf zerrte Shora zum Holzhaufen, zwang sie, hinaufzusteigen.
Inani blieb still. Es kümmerte sie nicht, was Shora in ihr sah. Was Alanée in ihr sah. Was Kythara von ihr erwartete, oder Pya.
Ich bin keine Klinge, keine Kriegerin, keine Hoffnung der Welt.
Ich bin Inani, Tochter der Shora.
Die Ketten wurden hinter dem Pfahl befestigt, an dem Shora sterben sollte.
Ich bin Inani, keine Königin.
Rynwolf stieg vom Holzstoß herab. Absolute Stille legte sich über die Stadt.
Ich bin Inani, und ich will meine Mutter nicht verlieren.
Der Erzpriester hob beide Hände in den Himmel und intonierte ein Gebet.
Ich bin Inani. Sonst nichts.
Ein Flammenstrahl schoss aus Rynwolfs Händen und entzündete den Scheiterhaufen. Inani spürte, wie die Menge hinter ihr aufbrüllte, nach vorne drängte, doch sie hörte nichts.
Ein hoher, spitzer Klageschrei rang in ihren Ohren, es kostete sie einen Herzschlag, um zu begreifen, dass es ihr eigener war. Ihr Körper spannte sich, bereit, vorzuspringen, egal, was dann geschah. Ob sie mit Shora starb oder nicht, sie wollte ihre Mutter umarmen. Ein letztes Mal.
Da schlangen sich Arme um ihren Leib, unnachgiebig, hart wie Stahl, und hielten sie fest. Inani bäumte sich auf, sie schrie, sie kämpfte, aber die Arme zogen sie fort, durch die Menge nach hinten.
„Sei still, Närrin, sonst bist du die nächste!“, zischte eine kalte Stimme in ihr Ohr. Vor lauter Verblüffung wusste Inani nichts zu sagen, denn dies war eine der letzten Personen, mit denen sie gerechnet hatte.
„Kythara sagte, du würdest eine Feindin brauchen, die dich aufhält. Eine Freundin würde an ihrem Mitleid scheitern, und ja, hier bin ich, Inani!“ Ylanka starrte sie an, das Gesicht verzerrt von einer Mischung aus Anstrengung, Hass, Triumph und Zorn. „Ja, ich verabscheue dich, trotzdem will ich nicht, dass du
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