Soehne des Lichts
Warum solltest du mehr sein müssen?“
Inani öffnete die Augen. Sie erinnerte sich und wusste, sie musste zum zweiten Mal in ihrem Leben entscheiden, welchen Weg sie gehen wollte. Sie musste nur zugreifen, ihr Schicksal annehmen, dann würde sie heimkehren können in ihr menschliches Selbst. Sie würde Inani sein, die Hexe. Sie würde bei Corin und Kythara sein, sie würde auf Thamars Rückkehr warten und gemeinsam mit ihren Seelenvertrauten leben.
Oder sie würde als Bestie sterben, hier und jetzt.
„Einmal bist du der Dunkelheit entronnen. Komm zu uns“, sprach die Leopardin. Inani bemerkte die Jungen, die neben dem Pantherweibchen kauerten. Sie wusste, ihre Seelenvertrauten würden ebenfalls sterben, wenn sie sich für den Tod entschloss. Die Jungtiere würden ohne ihre Mutter nicht überleben.
Behutsam streckte sie die Hand aus, streichelte mit ihren Klauen über das seidige Fell der Kleinen.
„Was stimmt nicht mit mir, Corin? Warum kann ich keine ganz normale Hexe sein?“, fragte sie.
„Weil es keine ganz normalen Hexen gibt. Wir sind Pyas Töchter, was soll daran normal sein?“ Corin lachte, ergriff Inanis Pranken und hielt sie hoch. Gemeinsam beobachten sie, wie die Klauen sich zurückzogen und das schwarze Fell verschwand.
Inani versuchte sich aufzurichten, doch sie war schwach, so schwach.
„Ich trage dich, bleib entspannt“, sagte Corin lächelnd.
„Nicht, ich bin zu schwer“, murmelte Inani, aber da lag sie schon in Corins Armen, als wäre sie ein müdes kleines Kind.
„Wenn du dich sehen könntest, würdest du so etwas nicht sagen, du bist halb verhungert. Hast du überhaupt gegessen in den letzten Wochen?“
Inani dachte darüber nach. Alles war so verschwommen, sie erinnerte sich an Todesschreie, an Blut und Entsetzen, an dunkle Nächte – schnell löste sie sich davon.
„Ich bin eine Mörderin, Corin“, sagte sie leise.
„Ja, ein Teil von dir ist genau das. Ein Teil von dir ist eine Schlange, ein anderer eine Leopardin. Du bist ziemlich viel. Na und?“
Inani lächelte müde, während Corin sie durch den Nebel trug. Ja, die Dunklen Töchter waren Mörderinnen. Auch diese zarte Taube, in deren Armen sie lag, hatte getötet, sie spürte es. Pyas Pfade waren seltsam ...
„Eines Tages werde ich zu Füßen der Göttin sitzen und sie fragen, warum das Leben so sein muss“, murmelte sie. Corins warmes Lachen begleitete sie bis in ihre Träume hinein.
15.
„Jahrhunderte des Kampfes gegen die Loy haben uns gelehrt, dass es im Krieg nichts zu gewinnen, nur zu verlieren gibt. Ihr seid Krieger. Gebt euer Blut, euer Leben für euer Volk. Doch nur, wenn ihr angegriffen werdet, eure Aufgabe ist Verteidigung, und Verteidigung allein. Haltet euch von allen kriegerischen Wesen fern, begegnet ihnen mit Respekt, unterwerft euch, wenn es sein muss. Ob Loy oder Menschen, im Krieg gegen sie gibt es nichts als den Tod zu gewinnen.“
Ehrenkodex der Nola
Thamar kniete am Bach nieder, um zu trinken. Seit Monaten zog er nun schon durch das Land, irrte mal hierhin, mal dorthin. Er hatte Bauern beim Pflügen der Felder geholfen, einige Zeit für einen Mann gearbeitet, der junge Pferde einritt, sich als Begleitschutz für einen Händler verdingt. Das Leben auf der Straße gefiel ihm, er war frei von allen Sorgen und Gedanken um die Zukunft, musste sich um niemanden kümmern als sich selbst. Keine Pflichten, keine Verhandlungen, kein Gestern, kein Morgen. Er dachte oft tagelang nicht an Ilat oder Roen Orm und an das Schicksal, das noch vor ihm lag. Stattdessen hielt er die Ohren offen und lauschte den Erzählungen und Legenden der einfachen Leute. Von einem Splitter der Flöte Pyas hatte bislang noch niemand gehört, dafür wusste man vieles andere zu erzählen: Von mordenden Hexen, vom Finsterling und seinen Kreaturen, vom Tod des Königs in der fernen Hauptstadt, aus der nur Forderungen nach Steuergeldern und Waffen kamen, von Kämpfen und Kriegen und Sorgen in Provinzen, die wesentlich näher lagen. Nichts davon hatte man Thamar jemals aus dieser Sichtweise erzählt, und er gierte regelrecht nach jedem Wort. Roen Orm mochte der Mittelpunkt der Welt sein, aber was alles in den Randgebieten geschah, hätte er sich niemals träumen lassen!
Thamar streckte sich und prüfte den Stand der Sonne. Es war Zeit, sich ein Lager für die Nacht zu suchen.
„Höchste Zeit, mir einen Ort zum Überwintern zu suchen!“, führte er den Gedanken halblaut fort. Die Nächte waren mittlerweile kühl,
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