Soehne des Lichts
Schnee riecht. Der Wind hat die letzten Tage immer aus dem Süden geweht und den Geruch von Meer und feuchte Wärme mitgebracht. Seit heute Nacht weht er aus dem Norden und riecht nach Schnee, kaltem Wind und hohen Bergen. Es dauert wohl noch ein paar Tage, bis Frost und Kälte uns einholen, aber wir sollten uns nicht hier draußen davon erwischen lassen.“
„Was hast du vor, Avanya?“ Thamar wartete ab, etwas an dem Verhalten der Nola sagte ihm, dass er ihren Vorschlag nicht mögen würde.
„Wir müssen uns trennen. Ich kenne einige Tunnel, die von den Nola aufgegeben wurden, Höhlen, die niemand mehr bewohnt. Da kann ich unterkriechen und überwintern. Du kannst mir auf diesem Weg nicht folgen.“
„Weil Menschen nicht in Nola-Tunnel eindringen dürfen?“
„Nein.“ Sie senkte den Kopf, sichtlich im Kampf mit sich selbst.
„Es ist ein Mysterium der Nola, das eigentlich nicht weiter erzählt werden darf. Bitte, wenn ich es dir erzähle, vergiss danach, dass ich es überhaupt erwähnte, bitte!“ Er zuckte leicht vor dem brennenden Leid in ihrem Gesicht zurück, überrascht von den Tränen, die in ihren Augen standen. Hastig nickte er ihr zu. „Ich schwöre, ich werde es niemandem erzählen!“, versprach er.
„Mein Volk lebt seit Anbeginn der Zeit inmitten von Erz und Kristall. Beides ist nicht nur die Grundlage unserer Kultur, sondern tatsächlich ein Teil unseres Wesens. Jeder Nola besitzt ein wenig Magie, mit der er Gestein beeinflussen kann, der eine mehr, der andere weniger. In Zeiten der Not – nun, wenn einem Nola keine andere Wahl bleibt, etwa, wenn es keine Nahrung mehr gibt, Feinde angreifen oder eine Feuersbrunst ausbricht – kann er sich in kristallines Gestein verwandeln. Es dauert einige Minuten, deshalb taugt es nichts während eines Kampfes, oder wenn man eine Gefahr zu spät erkennt, aber sofern die Zeit bleibt, bietet es uns sicheren Schutz. Ich könnte dich in die verlassenen Nola-Höhlen mitnehmen, doch es würde dein Grab werden. Dort unten gibt es keine Nahrung, kein Wasser, kein Feuerholz, kein Licht. Nichts von dem, was du brauchst, um zu überleben. Ich hingegen kann meinen Körper in eine lebendige Statue verwandeln, in eine Figur aus Kristall, und, einfach schlafen. Wenn ich es wollte, würde ich niemals wieder erwachen. Falls das nicht das Ziel ist, konzentriere ich mich bei Beginn des Zaubers darauf, wie lange ich versteinert sein will – wenige Minuten, ein Tag, oder eben für die Dauer des Winters.“
Bittend starrte sie ihn an, flehte darum, dass er sie verstand.
„Wenn dir keine Zeit bleiben würde, dich zu konzentrieren, was wäre dann?“, fragte er stirnrunzelnd.
„Dann wäre es, als hätte ich mich für eine Nacht niedergelegt, und würde nach wenigen Stunden ganz normal erwachen. Mein Körper ist fleischgeboren, Thamar, er will atmen. Manche Legenden sagen, dass die ersten Nola aus dem Gestein der Berge selbst entstanden und wandelnde Felsbrocken waren – sei es, weil ein Gott oder ein Magier es so wollte, sei es, weil die Berge selbst es so wünschten. Manche dieser Legenden sind wirklich wunderschön, wir glauben natürlich nicht wirklich daran.“
„Es könnte doch sein, dass es Pyas Tränen waren, die euch zu Leben erweckten?“, fragte Thamar.
„Möglich, ja. Nach den Legenden gab es allerdings die Nola und das Volk der Loy bereits auf dieser Welt, bevor die Himmelsgötter sich stritten und neues Leben erschufen. Es heißt, der Segen der Götter hätte uns die Magie geschenkt, aber auch gestohlen, was einst das Wichtigste für uns war. – Niemand weiß, was das bedeuten soll, was das Wichtigste gewesen ist. Ach, es sind alles Legenden, weißt du? Die Schriftgelehrten sollen sich darüber streiten.“ Avanya lachte und winkte müde ab.
„Nun gut. Du willst also, dass ich dich ziehen lasse“, sagte er leise.
„Ja. Es wäre das Richtige. Du kannst unter deinesgleichen gehen und deine Aufgabe erfüllen. Ich kann den Winter auf meine Weise überstehen, ohne dich aufzuhalten.“
„Avanya, ich würde sofort zustimmen und sagen, es ist ein wunderbarer Plan.“ Thamar überlegte einen Moment, suchte nach Worten, um das verletzte, traurige Geschöpf vor sich nicht noch weiter zu quälen. „Wenn du mir versprichst, dass du im Frühling aufwachen willst statt für alle Ewigkeiten weiterzuschlafen, dann begleite ich dich persönlich zu einer dieser Höhlen und nehme dort frohgemut meinen Abschied.“
Sie erstarrte und ließ den Kopf niedersinken.
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