Soehne des Lichts
Thamar beobachtete sie scharf.
„Du willst nicht mehr aufwachen, nicht wahr?“, flüsterte er und zog sie behutsam zu sich heran. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich in seine tröstende Umarmung fallen. „Avanya, ich kann das nicht. Verlange nicht von mir, dass ich dich einfach sterben lasse!“
„Du könntest mich nicht aufhalten“, wisperte sie kaum hörbar.
„Aber versuchen kann ich es doch!“
„Wozu? Du kennst mich nicht! Ich bin irgendeine Fremde aus einem vergessenen Volk, warum hilfst du mir? Warum riskierst du dein eigenes Leben und deine Aufgabe für eine Verstoßene, die für niemanden Wert besitzt? Eine Nalla ohne Clanrecht ist nutzlos. Ein zerbrochenes Stück Schiefer, ein schmutziger Kristall, sonst nichts!“ Sie kämpfte schluchzte gegen ihn an, es verlangte Thamars ganze Kraft, um sie festhalten zu können.
„Ich bin seit meiner Geburt nutzlos und überflüssig“, sagte er leise, als sie endlich aufgab und still an seiner Schulter lag. „Der überzählige Sohn, den niemand braucht oder will. Wenig geliebt, vom eigenen Bruder gejagt. Mein einziger Nutzen lag darin zu sterben, um Ilats Ruhm zu mehren und seinen Anspruch auf den Thron zu festigen.“ Er hatte Avanya nahezu alles erzählt, was es über ihn zu wissen gab; eigentlich bloß, um das Schweigen zwischen ihnen zu füllen. Jetzt war er froh darüber. Es tat gut, diesen Schmerz teilen zu können, auch nach all den Jahren noch.
„Ilat hatte mich besiegt und beinahe zu Tode gefoltert. Mein Lebenszweck war erfüllt, ich sollte bloß noch sterben. Aber Maondny hat mich gerettet. Es war unsinnig, es hat das Schicksal von gleich zwei Welten in Gefahr gebracht, und trotzdem hat sie es getan. Obwohl sie mich nicht kannte. Obwohl ich ein zerbrochenes Stück gar nichts war und aus einem Volk stamme, das mit dem ihren bis aufs Blut verfeindet ist. Seitdem weigere ich mich, ein Leben als nutzlos anzusehen, solange das Herz noch schlägt und der Körper noch stark ist.“
„Auf dich wartet womöglich ein Königreich, Thamar. Dein Volk wird dich wieder aufnehmen, wenn alles gelingt. Auf mich wartet nichts und niemand.“ Avanya kämpfte erneut gegen Tränen und Verzweiflung an, doch sie klang nachdenklich.
„Die Welt ist groß. Es gibt so viel zu entdecken da draußen, so viele Völker, bei denen du möglicherweise aufgenommen werden könntest, so viele Aufgaben, die deinem Dasein einen Sinn schenken würden. Ich kann dich den Hexen vorstellen, ich glaube, du würdest sie mögen … Nur weil dein Volk eine gesunde, starke Kriegerin verstößt, bedeutet das noch lange nicht, dass die Welt auf dich verzichten kann! Bitte Avanya, lass mich
versuchen, dich vom Tod abzuhalten. Wenn es gar keine andere Möglichkeit mehr gibt, kannst du ihn am Ende immer noch wählen.“ Er spürte, wie sie gegen seine Schulter nickte.
„Ja, versuchen kannst du es“, wisperte sie.
Eine ganze Weile verharrten sie so, ein jeder in seine Gedanken versunken, dann löste sie sich langsam von ihm.
„Ich schlage vor, wir ziehen weiter in deine vorbestimmte Richtung und sehen, was uns unterwegs begegnet. Wer weiß, vielleicht gibt es tatsächlich einen Grund zu überleben für mich, den ich einfach nur finden muss?“ Sie lächelte matt, wusste wohl, es würde ihn nicht täuschen. Aber ihm blieb nichts anderes übrig als zu nicken und ihr zuzustimmen. Es war zumindest ein Anfang.
~*~
Zwei ereignislose Tage wanderten sie Seite an Seite durch das Land, passierten dabei Ruinen eines seltsamen Bauwerks, von dem nur noch verstreute Felsbrocken und ein spitzer, weit in den Himmel ragender Turm übrig geblieben war.
„Weißt du etwas über das hier?“, fragte Thamar interessiert. Avanya mochte seine Art sich für alles zu interessieren, er war so neugierig auf die Welt, nahm nie etwas als selbstverständlich hin. Er beschämte sie, die so sicher gewesen war, dass Menschen größtenteils geistig und körperlich schwache Geschöpfe waren, die zwar die Fähigkeit besaßen, Großartiges zu leisten, doch meistens zu stumpfsinnig waren, soviel Mühe auf sich zu nehmen.
Avanya strich über das Gestein, horchte eine ganze Weile auf etwas, das Thamar niemals würde vernehmen können, dann schüttelte sie traurig den Kopf.
„Ich spüre ein Echo von Gewalt und Zerstörung. Eine Feuersbrunst, und Erschütterungen, die nicht von einem Erdbeben stammen können. Mehr kann ich nicht sagen. Steine erinnern sich nicht an Menschen oder Nola, es sei denn, ein mächtiger
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