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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Erklärungsbedarf, wo man nur hinblickte. Und die vielen Verwandten,die ihr alle geraten hatten abzutreiben. Was willst du denn so spät noch mit einem Kind, das kannst du doch nicht verantworten, schon gar nicht deinem Mann gegenüber. Saufkumpane, dreckige. Alle zusammen. Und jetzt – stehen sie alle aufgefädelt und schütteln der armen Mutter, die ihren Sohn verloren hat, die Hand.
    Der letzte Rest von Jugend. Nach und nach wird in jedem Stockwerk das Licht ausgeknipst und am Ende verlässt der Eigentümer sein Heim durch die Nasenlöcher. Der letzte Atemzug. Sonnenlicht auf dem versiegelten Gesicht. Gott, wie er aussieht.
Selbstmord … in den Selbstmord getrieben … Mord
. Fließende Übergänge, zynisch, beißend.
    Die Sonne draußen schien wie der Höhepunkt einer schlechten Satire.
    Sein Kopf, wie ein zerbrochener Blumentopf. Da, ein Riss in der Glasur. Ein Riss, knapp unterhalb des Ohrs. Den haben sie übersehen. Danke. Danke. Jürgen berührte seinen Bruder. Er streichelt ihm über die Wangen und ich trau mich nicht. Wirklich der letzte Rest, das letzte bisschen Saft. Seit dem Tag auch keine Periode mehr. Die unteren Stockwerke schon außer Betrieb. Die Verbindungsschächte stillgelegt. Einschlafen, langsam. Ich bin seine Mutter, ich muss.
    Sie ließ ihre Hand über Victors Stirn schweben. Dann strich sie ihm über die Wangen bis zum Hals. Eine lange Strecke für ein so kurzes Leben. Ihre Augen meldeten, dass sie Tränen produzierten, aber es kam keine Flüssigkeit. Leerlauf. Dafür würgte es sie und sie hatte große Mühe, das geliebte Gesicht nicht zu ohrfeigen. Bist du denn verrückt geworden! Einfach so! Wegen
ihm
! Ich werde ihn umbringen. Langsam,langsam werde ich ihn umbringen. Er soll an seiner Wehleidigkeit ersticken, der widerliche Drecksack. Nein, sie ohrfeigte ihren Sohn nicht dafür, dass er die Ohrfeige nie wieder spüren würde. Sie löste die Hand von seinem Gesicht und drückte sich die Faust gegen die Lippen. Sie erwartete einen heftigen Weinkrampf, aber dafür waren ihre Gedanken zu verwirrt. Wie Geister in der Vorhölle, im Wirbel, in einem gigantischen Strudel, schwirrend, irrlichternd, verrückt. Wer weiß, in welchen Endlosschleifen die Toten feststecken, bis der letzte Mensch, der sich an sie erinnert, stirbt und sie endlich freigibt?
    … die Endlosschleife eines Krankenzimmers … eine Berührung an der Wange … er musste geträumt haben …
    Alle paar Minuten fiel sein Bewusstsein in sich zusammen und er träumte von harten, klirrenden, aber letztendlich besänftigenden Dingen. Eine Kuchengabel. Eine Schulglocke wie eine abstrakte Mädchenbrust aus Metall. Ein blinkender Fingerhut. Dann musste er sein Bewusstsein jedes Mal geduldig wieder aufbauen, Spielkarte für Spielkarte – ein unerwartet lyrisches Unterfangen mit vielen sonderbaren Kurzschlüssen, die sich darin steigerten, noch verrücktere, noch absurdere Kombinationen einzugehen:
Der Bau … gleich würde es zu mir durchbrechen, aus seiner jahrelangen Isolation gelockt, ich wollte rufen
… Ja, was? … Die Stimme verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
    Ein unerledigter Auftrag …
    Er starrte an die Decke. Staubpartikel spielten in einem Lichtstrahl Universum und Entropie.
    Victors Kopf war halb zugeweht von Verbänden. Er konnte sich kaum bewegen, schon ein minimales Knacken seiner Halswirbelsäule hielt ihn davon ab. Er spürte eine taube, leere Stelle am Hinterkopf, nicht aber den Polster, auf dem er lag. Lange überlegte er, ob er sie betasten sollte, aber er ließ es schließlich bleiben, weil er fürchtete, die Stelle könnte sich weich oder gar feucht
und
weich anfühlen. Wie Gelee, dessen Nässe man erst dann spürt, wenn man den Finger wieder herausnimmt. Und ein zitternder, halbdurchsichtiger Tropfen seines zerstörten Gehirns bliebe auf der Fingerkuppe zurück. Victor schüttelte sich vor Kälte.
    Er sehnte sich – sehr seltsam – nach einer Zitrone, einer eiskalten, leicht grünlichen, ungespritzten Zitrone. Wie eine italienische Melodie. Vivaldi. Wie kaltes Wasser, am Morgen über die Augen gegossen, erfrischend, erweckend. Eine saubere, spiegelnd reine Frucht, die feucht perlende Sonnenscheibe einer Ananas. Wie diese leuchtenden, erfrischenden Gedichtzeilen aus dem »Buch der Lieder«, aus »Chamber Music« oder aus den »Éloges« von Saint-John Perse. Erfrischend, klar. Ein einziger Gedanke, unkompliziert eingespannt in Musik. Und der Saft, der die Mundwinkel entlangläuft.
    Vielleicht

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