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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Weise, indem sich ihr Verlobter von einem Balkon gestürzt hat. Ihr Kind wohnt nicht mehr bei ihr. Ihr Verstand hört nach und nach auf zu funktionieren. Tu ihr bitte keine Gewalt an. Erinnerungsgewalt.
    – Wie geht es dir so … hier?
    Nina legte die Hände vor sich auf den Tisch. Dann aber hielt sie diese Position nicht aus und lehnte sich stattdessen nach hinten, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ihr Gesicht lag zwischen den geöffneten Achselhöhlen.
    – Ist alles in Ordnung?
    – Wie?
    – Ich wollte mich nur erkundigen, ob alles –
    – Nein.
    – Nicht? Was stört dich denn?
    Nina antwortete nicht.
    – Vielleicht sollen wir ein bisschen rausgehen, hier drinnen –
    Nina nieste laut. Thomas wollte schon Gesundheit sagen, da nieste sie noch einmal, und noch einmal. Sie war vornüber gekippt, ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund verzerrt. Sie schien nur langsam wieder zu sich zu kommen.
    – Entschuldige, dass ich dich gestört habe, sagte Thomas.
    Er kramte nach dem kleinen Gegenstand in der Innentasche seiner Jacke. Er musste ihn ihr geben,egal, ob sie es mitbekam. Was sollte er auch damit, er gehörte nicht ihm. Man musste die Dinge weitergeben, von Hand zu Hand, so wie die Wörter, die niemand mehr brauchte, die absterben würden, wenn man sie nicht weiterreichte, von Mund zu Mund.
    Thomas hielt Nina den Gegenstand vors Gesicht. Zuerst betrachtete sie ihn durch ihre Lupe. Dann legte sie die Lupe weg, direkt auf die Briefmarke, die sich darunter optisch aufbäumte.
    Die junge Frau nahm den kleinen Aluminium-Eiffelturm aus seiner Hand und hielt ihn an ihre Wange. Dann ließ sie ihn wie ein Pferd wiehern.

Die Seneggers
    Grabsteine. Wenn die Kunst, sie zu gestalten, in unserer Kultur stärker ausgeprägt wäre, gäbe es weniger Blicke in die Vergangenheit – und weniger historische Romane
.
    v. s.
    Er war tot, das hatte man ihm erklärt, aber warum musste man seinen Körper unbedingt sofort eingraben und so tun, als wollte man ihn nicht mehr sehen? Vielleicht war er ja noch für irgendwas gut. Er wusste die Antwort, sicher, aber die Schnelligkeit der getroffenen Entscheidungen erschreckte ihn. Freilich begriff er auch, dass diese Schnelligkeit irgendwie mit der unüberblickbaren Größe des Friedhofsgeländes zusammenhing, mit den Reihen gleich aussehender Steine und Erdhügel. Es bestand eine unaussprechliche, aber deutliche Verbindung.
    Und wofür in aller Welt waren diese Gießkannen gut, die man von einer Kette ablösen konnte, mithilfe einer Münze, wie die Einkaufswagen vor dem Supermarkt? Begoss man die Erdhügel etwa? Und was entstand dann daraus – ein Strauch mit Fingernägeln und Zähnen an Stelle von Blüten?
    Warum musste man Victors Körper so schnell loswerden? Ja, es konnte natürlich sein, dass er ansteckend war. Vielleicht löste er sich auf und man lief Gefahr, ihn einzuatmen, wie das Pulver aus seinem Asthma-Inhalator.
    Und dann war es einfach nur verboten, mit einem Toten zusammenzuleben.
    Er war jetzt zwölf Jahre alt, trotzdem kamen ihm diese Gedanken, die Gedanken eines Dreijährigen, wie von selbst, und er musste sich dafür nicht einmal schämen oder hassen oder beides zugleich. Hier war der genau richtige Ort für diese Gedanken. So wie die letzten Höllenschauplätze von
Doom 2
die richtige Arena waren für religiöse Angstzustände.
    Er wollte seinen Bruder noch einmal berühren. Natürlich wurde er dabei von seiner Mutter begleitet. Sie zitterte, ihr Kopf zitterte immer, wenn sie sich konzentrieren musste. Und es fiel ihr äußerst schwer, sich zu konzentrieren, denn hier ergab sehr wenig einen Sinn, mit dem man leben konnte, den man wie einen Rucksack schultern und mit nach Hause tragen konnte. Nein, wenig ergab hier wirklich einen Sinn. Die Abwesenheit ihres Mannes zum Beispiel.
    Bestimmt saß der wehleidig und verbittert zuhause und
ertrug
die Situation,
überstand
den schweren Schlag, den er von seinem unbesonnenen Sohn erlitten hatte. Mit einem kühlen Handtuch auf der Stirn. Wie sie diese Vorstellung erkalten ließ! Es tat ihr fast wohl. Sie spürte, dass ihr Körper auch die letzten Reste der Jugend ausgeschwemmt hatte. Lange war diese Goldwäscherei des nahenden Todes an ihr geübt worden, jetzt schien ihr Körper bereit, sich endgültig in seine Bestandteile aufzulösen. Sie hielt Jürgens Hinterkopf, während sie gingen, aber sie musste ihn nicht führen, er fand den Weg zu seinem toten Bruder wie von alleine.
    So spät noch schwanger zu werden!

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