Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
denkt schließlich auch nicht an das Kausalgesetz oder die kantischen Formen der Anschauung, wenn man den ersten Kuss bekommt.«
»Nein, das wäre verrückt.«
»Der Glaube ist vor allem dann wichtig, wenn es um religiöse Fragen geht. Kierkegaard meint, wenn ich Gott objektiv erfassen kann, dann glaube ich nicht, aber gerade, weil ich das nicht kann, muss ich glauben. Und wenn ich mir den Glauben bewahren will, muss ich immer darauf achten, dass ich nicht vergesse, dass ich in der objektiven Ungewissheit ›auf 70.000 Faden Wasser‹ bin – und doch glaube.«
»Das war ein bisschen schwierig ausgedrückt.«
»Früher hatten viele versucht, Gottes Existenz zu beweisen – oder sie jedenfalls mit der Vernunft zu erfassen. Aber wenn man sich mit solchen Gottesbeweisen oder Vernunftargumenten abfindet, dann verliert man den Glauben selber – und damit auch die religiöse Innigkeit. Denn wesentlich ist nicht, ob das Christentum wahr ist, sondern ob es für mich wahr ist. Im Mittelalter wurde derselbe Gedanke durch die Formel ›Credo quia absurdum‹ ausgedrückt.«
»Ach was?«
»Das bedeutet: Ich glaube, weil es vernunftwidrig ist. Wenn das Christentum an die Vernunft appelliert hätte – und nicht an andere Seiten in uns –, dann wäre es keine Frage des Glaubens.«
»Das habe ich jetzt begriffen.«
»Wir haben also gesehen, was Kierkegaard unter ›Existenz‹, unter ›subjektiver Wahrheit‹ und unter ›Glauben‹ verstanden hat. Auf alle drei Begriffe führte ihn die Kritik an der philosophischen Tradition und vor allem an Hegel. Aber darin lag auch eine ganze Zivilisationskritik . In der modernen Stadtgesellschaft sei der Mensch ›Publikum‹ oder ›Öffentlichkeit‹ geworden, meinte Kierkegaard, und das erste Kennzeichen der Menge sei das viele unverbindliche ›Geschwätz‹. Heute würden wir vielleicht das Wort ›Konformität‹ verwenden, das heißt, dass alle dasselbe ›meinen‹ und ›vertreten‹, ohne dass irgendwer ein leidenschaftliches Verhältnis dazu hat.«
»Ich frage mich, ob Kierkegaard nicht mit Jorunns Eltern ein paar Hühnchen zu rupfen hätte.«
»Er war in jedem Fall nicht sehr nachsichtig mit seinen Mitmenschen. Er führte eine spitze Feder und konnte ätzend ironisch sein. Er schrieb zum Beispiel: ›Die Menge ist die Unwahrheit.‹ Oder: ›Die Wahrheit ist immer in der Minderheit.‹ Er erklärte auch, dass die meisten Menschen ein viel zu verspieltes Verhältnis zum Dasein hätten.«
»Barbie-Puppen sammeln ist eins. Selber eine Barbie-Puppe zu sein, ist fast noch schlimmer ...«
»Das bringt uns zu Kierkegaards Lehre der drei Stadien auf dem Lebensweg.«
»Was hast du gesagt?«
»Kierkegaard meinte, dass es drei verschiedene Existenzmöglichkeiten gibt. Er selber verwendet das Wort ›Stadien‹. Er nennt diese Möglichkeiten das ›ästhetische Stadium‹, das ›ethische Stadium‹ und das ›religiöse Stadium‹. Wenn er gerade das Wort ›Stadium‹ wählt, dann will er damit auch zeigen, dass man in einem der beiden unteren Stadien leben und dann ganz plötzlich den ›Sprung‹ in ein höheres schaffen kann. Aber viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben in einem Stadium.«
»Jetzt tippe ich, dass bald eine Erklärung kommt. Und ich bin außerdem neugierig, in welchem Stadium ich mich selber befinde.«
»Wer im ästhetischen Stadium lebt, lebt im Augenblick und strebt immer nach dem Genuss. Was gut ist, ist das, was schön, nett oder angenehm ist. So gesehen, lebt ein solcher Mensch voll und ganz in der Welt der Sinne. Der Ästhet wird zum Spielball seiner eigenen Lüste und Stimmungen. Negativ ist alles, was öde oder nicht geil ist, wie man heute sagt.«
»Ja, danke, ich glaube, diese Haltung kenne ich.«
»Auch der typische Romantiker ist Ästhet, denn es geht nicht nur um sinnlichen Genuss. Auch jemand mit einem spielerischen Verhältnis zur Wirklichkeit – oder zum Beispiel zur Kunst oder zur Philosophie, mit denen er sich beschäftigt – lebt im ästhetischen Stadium. Selbst Kummer und Leid gegenüber kann man sich nämlich ästhetisch oder ›betrachtend‹ verhalten. Was dann regiert, ist die Eitelkeit. Ibsen hat in Peer Gynt das Bild eines typischen Ästheten gezeichnet.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Kierkegaard meint.«
»Erkennst du dich darin wieder?«
»Nicht ganz. Aber ich finde, es erinnert ein bisschen an den Major.«
»Ja, vielleicht, Sofie – obwohl das wieder ein Beispiel für diese kitschige romantische Ironie war. Du
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