Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Staaten sind keine scharf voneinander getrennten politischen Staaten. Sie ringen in jedem einzelnen Menschen um die Macht. Mehr oder weniger deutlich sind aber der Gottesstaat in der Kirche und der irdische Staat in den politischen Staatsgründungen vorhanden – zum Beispiel im Römischen Reich, das gerade zu Lebzeiten Augustinus’ in Auflösung überging. Diese Auffassung wurde immer deutlicher, als Kirche und Staat während des gesamten Mittelalters um die Macht kämpften. ›Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche‹, hieß es jetzt. Augustinus’ Gottesstaat wurde schließlich mit der Kirche als Organisation gleichgesetzt. Erst während der Reformation im 16. Jahrhundert erhob sich Protest dagegen, dass der Mensch den Weg der Kirche gehen müsse, um Gottes Gnade zu erlangen.«
»Das war dann aber auch Zeit.«
»Wir können uns auch notieren, dass Augustinus der erste unserer Philosophen war, der die Geschichte in seine Philosophie einbezog. Die Annahme eines Kampfes zwischen Gut und Böse war absolut nichts Neues. Das Neue bei Augustinus ist, dass dieser Kampf in der Geschichte ausgefochten wird. In dieser Hinsicht finden wir bei ihm nicht viel Platonismus. An dieser Stelle fußt er fest auf dem linearen Geschichtsbild, das uns im Alten Testament begegnet. Augustinus geht es darum, dass Gott die gesamte Geschichte braucht, um seinen ›Gottesstaat‹ zu errichten. Die Geschichte ist notwendig, um die Menschen zu erziehen und das Böse zu vernichten. An einer Stelle sagt Augustinus, die göttliche Vorsehung führe die Geschichte der Menschheit von Adam bis an das Ende der Geschichte, gleich der Geschichte eines einzelnen Menschen, der sich schrittweise von der Kindheit bis zum Alter entwickelt.«
Sofie schaute auf die Uhr.
»Es ist schon acht«, sagte sie. »Ich muss fort.«
»Aber erst erzähle ich dir vom zweiten großen Philosophen des Mittelalters. Wollen wir uns nach draußen setzen?«
Alberto erhob sich aus der Bank. Er legte die Handflächen gegeneinander und schritt durch den Mittelgang. Er schien zu beten oder geistige Wahrheiten zu durchdenken. Sofie folgte ihm; sie glaubte, keine andere Wahl zu haben.
Draußen lag noch immer eine dünne Nebeldecke über dem Boden. Die Sonne war vor vielen Stunden aufgestanden, aber sie hatte den Morgennebel noch nicht durchdringen können. Die Marienkirche lag am Rande der Altstadt. Alberto setzte sich auf eine Bank vor der Kirche. Sofie überlegte sich, was wohl passieren würde, wenn jetzt jemand vorbeikäme. Es war ohnehin schon etwas ganz Besonderes, morgens früh um acht auf einer Bank zu sitzen; und dass sie hier mit einem Mönch aus dem Mittelalter saß, machte die Angelegenheit nicht besser.
»Es ist acht Uhr«, begann er. »Seit Augustinus sind an die vierhundert Jahre vergangen und nun beginnt der lange Schultag. Bis zehn Uhr haben die Klosterschulen das Unterrichtsmonopol. Zwischen zehn und elf werden die ersten Domschulen eingerichtet und gegen zwölf Uhr werden die ersten Universitäten gegründet. Nun werden außerdem die großen Kathedralen gebaut. Auch diese Kirche wurde gegen zwölf Uhr gebaut – oder im so genannten Hochmittelalter. Hier in dieser Stadt konnten sie sich keine größere Kathedrale leisten.«
»Das war ja wohl auch nicht nötig«, fiel Sofie ihm ins Wort. »Leere Kirchen finde ich einfach schrecklich.«
»Aber die großen Kathedralen wurden ja nicht nur erbaut, um große Gemeinden aufzunehmen. Sie wurden zu Gottes Ehre errichtet und waren in sich schon eine Art Gottesdienst. Aber im Hochmittelalter geschah noch etwas anderes, was für Philosophen wie uns von besonderem Interesse ist.«
»Erzähl!«
Alberto fuhr fort:
»Nun machte sich der Einfluss der Araber in Spanien geltend. Die Araber hatten während des gesamten Mittelalters eine lebendige Aristoteles-Tradition bewahrt und ab etwa 1200 kamen auf Einladungen der dortigen Fürsten arabische Gelehrte nach Norditalien. Auf diese Weise wurden auch viele seiner Schriften bekannt gemacht und schließlich aus dem Griechischen und Arabischen ins Lateinische übersetzt. Und das wiederum schuf ein neues Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen. Außerdem wurde die Frage nach dem Verhältnis der christlichen Offenbarung zur griechischen Philosophie neu belebt. In naturwissenschaftlichen Fragen führte kein Weg mehr an Aristoteles vorbei. Aber wann sollte man auf den ›Philosophen‹ hören – und wann sollte man sich ausschließlich an die Bibel halten? Kommst du noch
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