Sohn Der Nacht
ihrem Stuhl. Weder Mom noch Neddie sagten irgend etwas.
Katie dachte an ihr Versprechen, das sie Merrick gegeben hatte, ihre Schießkünste auf dem Polizeischießstand zu ver vollkommnen. Sie hatte es nicht getan - wann denn auch? Sie mochte keine Schießeisen, sie haßte das fettige Gefühl, das sie in der Hand hervorriefen, das Klicken, den ohrenbetäuben den Krach, überhaupt die ganze Vorstellung, auf jemanden zu schießen. Ironischerweise hatte sie sich trotz allem recht geschickt angestellt, als sie sich von Merrick im Schießen hatte unterrichten lassen. Auf eine Entfernung von etwa zwanzig Schritt würde ich einen Eindringling wohl treffen - sofern er sichtbar ist.
Mom räusperte sich. »Wie geht das eigentlich vonstatten, Neddie, wenn du mit der Polizei zusammenarbeitest?«
Neddie seufzte. »Üblicherweise bringen sie mir irgend welche Gegenstände - ein Stück von der Kleidung des Opfers oder vielleicht ein Streichholz oder Bonbonpapier, das der Killer zurückgelassen hat. Wenn ich diese Gegenstände berühre, gelange ich manchmal zu einer Vorstellung von den Leuten, die damit im Zusammenhang stehen.«
»Wie in diesem Artikel in der Washington Post«, sagte Mom, »wo beschrieben wurde, wie du den Killer gefunden hast, nachdem du eine Patrone berührt hast, die aus seinem Schieß eisen abgefeuert worden war.«
»Ja.«
Mom warf Katie einen hoffnungsvollen Blick zu, und Katie merkte, was sie dachte: Laß Neddie doch die Eisenstäbe am Fenster der Speisekammer berühren. Katies erster Impuls war, den Kopf zu schütteln, doch dann verspürte sie ein plötzliches Schuldgefühl. Neddie war so liebenswürdig gewesen, hierherzufliegen, dachte sie, und ich habe die ganze Zeit eines der zentralen Elemente ihres Lebens ignoriert, nur weil ich nicht daran glaube. Katie deutete auf ihre Uhr. Mom nickte und zog den Stift heraus, um das Funkgerät drinnen abzuschalten. Katie tat dasselbe und fühlte sich auf der Stelle erleichtert. Mit der eingeschalteten Einbruchsicherung müßten sie eigentlich auch in einer kritischen Situa tion Zeit genug haben, die Stifte rechtzeitig wieder heraus zuziehen,
»Neddie«, sagte sie, »Mom denkt, die Kreatur, die mich im Labor bedroht hat, könnte in das Haus eingedrungen sein, in dem sie die Eisenstäbe vor dem Speisekammerfenster verbo gen hat ...«
Neddie rieb sich den Mund. »Ich könnte es versuchen«, sagte sie leise.
Sie schien alles andere als begierig zu sein, hier im Haus ihre übersinnlichen Fähigkeiten zu erproben, und Katie wollte schon einen Rückzieher machen. »Wenn du natürlich nicht...«
»Nein, nein.«
Katie ging voran, schaltete das Licht in der Speisekammer ein und hob das Fenster in die Höhe, so daß Neddie an die Eisenstäbe fassen konnte. Eine kühle Brise, angereichert mit dem schweren Geruch von Humus auf dem Hof draußen blies herein. Ein Halbmond ließ die Spitzen der Gräser und die Oberseite der Büsche silbern glänzen. Neddie blickte einen Augenblick auf die Stäbe, dann faßte sie die beiden mittleren unten an und begann, ihre Hände langsam nach oben gleiten zu lassen. Sie schloß die Augen und ließ ein lei ses Stöhnen hören.
»Neddie?« sagte Mom.
»Ja, es ist hier hereingekommen.«
Aufs Katies Unterarmen stellten sich die Haare senkrecht. Konnte diese Kreatur wirklich stark genug sein, diese Gitter stäbe verbogen zu haben?
»Es ist sehr allein«, murmelte Neddie, »und ... besessen.« Sie öffnete die Augen, zog die Hände zurück und wischte sie sich am Rock ab. Suchend blickte sie dann Katie an.
»Was ist?« sagte Katie.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich einen Blick oben in dein Schlafzimmer werfe?«
Wieder spürte Katie das Prickeln einer Gänsehaut, die über ihren Nacken kroch. »Dann komm.« Sie ging die Treppe hin auf voran. Zu spät, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Sie würde Neddie einfach nur ihre Sache machen lassen, höf lich auf jede Frage antworten und versuchen, die Sache wie der zu vergessen.
Neddie glitt im Zimmer umher wie eine Schlafwandlerin, hinüber zu dem Schaukelstuhl, eine kurze Pause am Fenster, das auf den Hinterhof hinausging, dann ein kurzes Verweilen am Bett. Dort kniete sie mit der Andacht einer Kirchgängerin nieder. Sie starrte Katies Kissen an, und ihre Augen weiteten sich. Es war deutlich zu sehen, wie sie erschauderte. Wenn sie Theater spielte, war sie auf jeden Fall sehr überzeugend.
Abrupt stand Neddie wieder auf. »Können wir wieder nach unten gehen?«
»Natürlich«,
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