Sohn Der Nacht
warst einmal Engländer. Vielleicht hast du sogar Shakespeare kennengelernt, stimmt's?«
»Hinter der Bühne, nach einer Vorstellung. Ich habe das Stück vergessen. Er hat mich um fünfzig Crowns angehauen, um bei der Finanzierung eines neuen Stücks zu helfen, an dem er gerade schrieb.«
»Mal sehen, wen du sonst noch alles kennst. Was sagst du dazu: >Wir sind alle die Gefangenen unserer Freunde.<«
»Ich weiß nicht.«
»Sandeman. Schreib es dir in dein Herz, mein Freund.«
Wieder spürte Merrick das Brennen in seiner Kehle. Heute nacht werde ich versuchen, so tapfer zu sein wie Sandeman, schwor er still für sich, selbst wenn Zane mich in mein Grab trägt.
Als Katie durch die Dunkelheit zu Jennys Haus fuhr, kämpfte sie gegen die schrecklichen Bilder an, die ihre Phantasie ihr ständig vorgaukelte - ein Glas voll dunklen Blutes, das sich an Jennys Lippen hob, die schlanke Kehle in konvulsivischer Bewegung beim eifrigen Schlucken, ein roter Schnurrbart von Blut auf ihrer daunenweichen Oberlippe. Was sie in ihrer Phantasie nicht sehen konnte, waren Jennys Augen.
Katie schauderte und versuchte, die Hände am Steuerrad zu entspannen. Sie mußte an etwas anderes denken, oder sie würde die Nerven verlieren ...
Art. Warum kann ich ihn nicht wiederlieben?
Ich mag ihn, dachte sie, ich mag ihn sogar sehr. Er sieht gut aus, ist klug und tapfer. Er kann mich zum Lachen brin gen. Und er liebt mich. Sie erinnerte sich wieder an die über raschte Freude auf seinem Gesicht, als sie ihm auf der Sta tion begegnete. Am Telefon hatte Ann Hrluska gesagt, Jenny sei in der Schule und werde noch bleiben, aber sie werde so gegen sechs nach Hause kommen. Als Art klar wurde, daß sie ihre Absicht, hinaus zu Jenny zu fahren, nicht geändert, sondern nur verschoben hatte - bis nach Einbruch der Dunkelheit -, hatte er wieder versucht, sie zu überzeugen, nicht zu gehen. Glücklicherweise siegte wieder die Macht der Gewohnheit, und er hatte ihre Anweisung akzeptiert, Dienst auf der Station zu machen. Sie und Art hatten in einer so ungleichen Partnerschaft begonnen. Er war ein großartiger Praktikant gewesen, hatte alles getan, worum sie ihn je gebe ten hatte.
Der Gedanke, Art zu verlieren, stimmte sie traurig, aber darüber hinaus konnte sie keine weiteren Gefühle ent decken, keine freudige Erwartung bei dem Gedanken, frei zu sein, mit ihm etwas anzufangen, kein Vergnügen bei dem Gedanken, mit irgend jemandem etwas anzufangen. Die Leblosigkeit tief in ihr machte sie wahnsinnig. Merrick hatte ihr dies angetan, Merrick, er hatte sie glauben gemacht, er liebe sie, während er sein ganzes Leben vor ihr verbarg - nicht nur einfach eine andere Frau, sondern möglicherweise auch Mord. Nicht gerade Mord, aber zerrissene Kehlen, feh lendes Blut, Horror, der einfach zu schrecklich war, um ihn zu begreifen.
Bestürzt hielt Katie den Wagen an und starrte durch die Windschutzscheibe auf einen Mückenschwarm, der im Scheinwerferlicht tanzte. Konfusion bemächtigte sich ihrer. Konnte dieser Mann, der so liebevoll mit ihr und Gregory gewesen war, ebenfalls ein Messer an ihre Kehle gehalten und mit Blut auf den Rücken seines eigenen Sohnes geschrieben haben? Wenn dem so war, wie schrecklich gespalten mußte seine Persönlichkeit dann sein?
Ein vorbeifahrender Sattelschlepper schleuderte Steinchen gegen die Windschutzscheibe und durchbrach damit Karies Lähmung. Katie fuhr wieder auf die Straße zurück.
Als Merrick hörte, wie der Wagen in Jennys Auffahrt hinein fuhr, wußte er, daß es nicht Zane war. Zane würde sich niemals derart frontal nähern. Die Scheinwerfer reichten nicht bis zu den Bäumen, und so fühlte er sich sicher genug, den Kopf über die Forsythienbüsche zu heben. Bei dem Auto han delte es sich um einen Riviera, einen, wie Meggan ihn besaß.
Merrick starrte schockiert hinüber, als Katie aus dem Wagen stieg und zur Tür ging. Er wollte schon aufspringen, dann fühlte er Sandemans Hand, die an seinem Hemd zog. »Nein, Merrick.«
Er sank zurück und wußte, daß der Sauger recht hatte. Aber, verdammt, was machte Katie denn hier draußen? Sie sollte zu Hause bei Meggan sein. Sie mußte hierhergefahren sein, um Jenny zu untersuchen. Wenn Zane sich hier sehen ließ, während sie hier war, und Katie mit hineingezogen wurde, dann würde Zane das eine zusätzliche Waffe in die Hand geben.
Von den Büschen her beobachtete Merrick mit wachsender Besorgnis, wie Ann Hrluska an der Tür erschien, Katie kräf tig umarmte und sie ins
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