Sohn Der Nacht
nicht ganz stimmte.
»Du weißt, was ich meine. Muß ich?«
»Ja, du mußt sterben.«
»Oh.« Ihr trostloser Ausdruck brach ihm schier das Herz. Nach einer Minute sagte sie: »Das wird schwer für Mom und Dad werden.«
»Ich weiß. Aber nach einer Weile wird es ihnen schon wie der besser gehen.« »Leben deine Eltern noch?«
»Nein.« Merrick wunderte sich über die Frage, dann ver stand er. Obwohl er sein Alter mit fünfunddreißig angab - und den meisten Leuten wie dreißig erschien -, mußte er für eine Zwölfjährige vielleicht nicht urzeitlich, aber auf jeden Fall alt erscheinen. Er dachte an seinen Vater. Die Erinnerung, die sich über die Jahrhunderte am schärfsten in ihn eingefres sen hatte, war die an seines Vaters Agonie - der Heiler des Dorfes, der seinen eigenen Sohn nicht retten konnte.
»Ich wollte, ich könnte irgendwohin davonkriechen«, sagte Jenny, »damit meine Eltern es nicht sehen müßten.«
Merrick blickte sie überrascht an. Genauso hatte er selbst gefühlt. Und das hatte er auch tatsächlich getan. Gepeinigt vom leisen Schluchzen seiner Mutter im anderen Zimmer der Hütte hatte er gewartet, bis sie einmal fortgegangen war. Dann hatte er sich selbst aus dem Bett geschleppt und es geschafft, in den Wald hinterm Dorf zu stolpern. Er erinnerte sich, wie er in den Büschen neben dem Weg gelegen hatte, wie er die Zweige angeknabbert hatte, wie er das Gras neben sei nem Gesicht gekaut hatte, immer in dem Versuch, seinen Hunger zu stillen. Sterbend, aber ausgehungert.
Dann hatte er ganz leise die Rufe gehört. Zuerst hatte er gedacht, es sei ein Traum, doch dann hatte er gespürt, wie der Boden unter ihm unter den herannahenden Schritten gebebt hatte. Durch das hohe Gras hindurch hatte er gesehen, wie ein Mann in Panik den Weg hinunter auf ihn zulief. Zwei Männer in abgerissenen Kleidern jagten ihn. Einer von ihnen hatte ein Messer und der andere einen Stock. Sie holten den Fremden einige Schritte von ihm entfernt ein. Verborgen im Gras konnte Merrick nur voller Entsetzen zusehen, wie die beiden Wegelagerer den anderen zu Boden warfen. Sie zogen ihm die Kleider aus und nahmen ihm die lederne Tasche weg. Und dann schnitten sie ihm die Kehle durch.
Als sie davonrannten, hob Merrick den Kopf über das Gras. Er sah die aufgeschnittene Kehle und den Strom des hel len Blutes aus der Arterie. Ein höchst sonderbares Gefühl überkam ihn. Plötzlich war er auf Händen und Knien und kroch auf den sterbenden Mann zu. Eine fieberhafte Stärke durchströmte ihn. Er schloß die Hände über der Kehle des Mannes und dachte, er wolle einfach nur die Blutung stillen, wie er das bei seinem Vater gesehen hatte, aber dann leckte er sich die Handflächen, fiel auf den Nacken des Mannes hinun ter und saugte an der pumpenden Wunde, als er diesen
unglaublichen Rausch das erste Mal spürte. Er erhob sich von dem Leichnam, entsetzt über sich selbst, und rannte in Panik durch den Wald.
Er hatte sich selbst nie wieder gestattet, in die Nähe seiner Eltern zu gehen.
»Ich will aber nicht sterben, Detective Chapman.«
»Ich will auch nicht, daß du stirbst.« Er strich ihr mit der behandschuhten Hand über den Rücken. Wieder wurde ihm das Blut bewußt, das er in der Transfusionspackung bei sich trug. Alles, was er zu tun hatte, es ihr zu geben, und sie würde leben.
Und Hunderte, vielleicht Tausende anderer könnten ster ben.
Vielleicht kann ich ihr beibringen, wie die Transfusions packung zu benutzen ist...
Er erinnerte sich wieder, wie er erst vor einer Stunde nach Randall gegriffen hatte, erfüllt von dem wahnsinnigen Ver langen, ihn zu töten. Seine Selbstbeherrschung hatte am seidenen Faden gehangen. Wie bei jeder dieser Nahrungsauf nahmen. Und was war mit Sandeman, der in einem Unter grundgewölbe dahinvegetieren mußte, weil er sich nicht zurückhalten konnte, weil er auch das Leben nehmen mußte, sobald er Blut sah? Wenn ich Jenny Blut gäbe, dachte Merrick, und sie dann nicht davon abhalten könnte zu morden, müßte ich sie irgendwann in das Gewölbe einschließen. Der Tod, der ihr dann bevorstünde, würde das, was sie jetzt durchmacht, geradezu sanft und gnadenvoll erscheinen lassen.
Wenn ich nur glauben könnte, daß ich in der Lage wäre, ihr zu helfen ...
Aber wenn ich meinen eigenen Sohn nicht retten konnte, den ich mehr geliebt habe als irgend jemand sonst auf der Welt, wie könnte ich dann hoffen, dieses junge Mädchen zu retten, das ich kaum kenne? Und mit Zane wäre es leichter gewesen,
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