Sohn Der Nacht
hinunterschießen.
Binnen weniger Augenblicke schwand das Verlangen zu töten. Er spürte einen Schub physischer Vitalität. Er war jetzt stark wie ein Löwe. Das schummrige Licht im Treppenhaus
blendete ihn wie die Mittagssonne. Sein Gehör wurde schär fer, er hörte das federleichte Scharren einer Schabe, die eine Etage tiefer über die Plattform vor dem Aufzug entlangeilte. Er konnte den Fleck Schokolade am Einwickelpapier eines Schokoriegels riechen, das jemand auf den Stufen hatte fallen lassen. Als er sich die Hand vors Gesicht hielt, sah er, daß die Oberseite wie Babyhaut leuchtete, sanft und weich wie ein Pfirsich. Wie konnte solch zartes Fleisch ein solch verborge nes Übel verdecken? Er verfluchte die Schärfung seiner Sinne, die ihm nur die eigene Verderbtheit um so deutlicher zeigte. Wenn er nur sterben könnte, von einer Sekunde zur nächsten aufhören würde zu existieren.
Aber diese Gnade könnte ihm nicht zuteil werden. Auch wenn er sich selbst den Kopf abtrennte, der Stumpf seines Nackens würde sich auf der Stelle schließen, und die verblei bende Haut würde das bißchen Sauerstoff, das er brauchte, direkt der Luft entnehmen und in seine Kapillaren leiten. Die Muskeln seiner Wangen und seiner Stirn würden unbewußt kontrahieren und das verbleibende Blut pumpen. Er würde weiterleben, bei vollem Bewußtsein, aber hilflos, viele Monate lang. Und wenn irgend jemand ihn fand ...
Merrick schauderte. Welch monströse Abscheulichkeit war doch er, der wahre Merrick, der hinter all den zivilisierten Manieren steckte, den hoffnungslosen Versuchen, ein norma ler, wohlanständiger Mann zu sein. Er haßte sich selbst, wie er all die anderen Bluttrinker, die so waren wie er, voll heißer und bitterer Wildheit haßte.
Weißt du, warum du das tust, Merrick? Warum du sie jagst und sie tötest?
Merrick stöhnte und schlug sich die Hände an die Ohren in dem Versuch, Sandemans Stimme aus seinen Gedanken zu löschen. Der Grund spielt keine Rolle, dachte er. Wir verdie nen den Tod - wir alle.
Merrick schob die leere Transfusionspackung zurück in die Naht in seinem Rock und eilte zum Aufzug zurück. Er war sich der verbleibenden Packung allzu bewußt, eines
warmen Gewichtes, das bei jedem Schritt gegen seine Hüfte pochte. Er wollte auch dieses Blut, wenn auch nicht so verzweifelt, wie er nach dem ersten verlangt hatte. Er mußte es in den nächsten Stunden trinken, oder es würde anfangen, sich zu zersetzen, aber er wollte damit so lange warten, wie er nur konnte. Ein kleines Anzeichen von Widerstand nur, aber jeder Akt der Selbstkontrolle stärkte ihn, wie er wußte, genau wie auch nur das kleinste unnötige Nachgeben ihn schwächen würde.
Einmal aus dem Hotel heraus, fühlte er sich sicherer. Er atmete tief durch und sog die kühle Frühlingsluft in seine Lungen. Ihre Süße überkam ihn wie Spott und überspülte ihn mit einem neuerlichen Schub von Selbstekel. Wenn er Arbeit hätte, die ihn in Anspruch genommen hätte, würde das hel fen, aber die hatte er nicht. Es gab jetzt weiter nichts zu tun, als zu warten und zu hoffen, daß sein Widerpart sich in die ser Nacht nicht ebenfalls nährte. Morgen, wenn die Manager wieder zum Dienst erschienen, würde er ganz früh mit den verbleibenden Hotels anfangen.
Merrick stand neben seinem Wagen und versank in den Gaukelbildern seiner Einbildungskraft. Er sah sich selbst, wie er eine dunkle, gerade Landstraße entlangraste und fühlte, wie er selber ausblutete, bis nichts mehr übrig war als seine Hände, die das Steuerrad umklammert hielten.
Wohin konnte er sich wenden, was konnte er nur tun, damit er sich besser fühlte? Irgendwo in ihm drinnen gab es etwas Gutes, sicher. Er dachte an Jenny Hrluska, die in der Klinik starb, ohne daß jemand da war, der ihr helfen konnte - ohne jemanden, der sie verstand. Er blickte auf die Uhr. Acht Uhr. Die Besuchszeit war vorüber. Aber er war nicht einfach nur irgendein Besucher.
Als Merrick am Schwesternzimmer vorbeikam, rief jemand nach ihm. Als er sich umwandte, sah er die diensttu ende Schwester. »Guten Abend, Shirley.«
»Und was denken Sie wohl, wohin Sie gehen?«
Er brachte ein Lächeln zustande, denn er wußte, daß ihr
boshafter Tonfall schlimmer war als ihr Biß. »Ich dachte mir, ich sehe mal nach Jenny.«
»Nicht ohne Maske und Kittel, verstanden?«
Shirley half ihm, den weiten Kittel, die Maske und die Gummihandschuhe anzulegen. »Ihre Eltern sind schon seit Stunden bei ihr. Sie sind nur gerade mal
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