Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
das Heim des früheren Himmelsfürsten Lucifer, lag verlassen da. Die hohen goldenen Tore, die das Signum des Sohns des Morgens trugen, waren seit dem Abend seiner Verbannung mit schweren Ketten verschlossen.
Nur einmal in all den vergangenen Jahrtausenden hatte man den Ostflügel geöffnet – an dem Tag, als Lucifer zum Ersten Gericht gerufen worden war. Damals, vor nahezu zweitausend Jahren, hatte er sich in eben diesen Räumen aufgehalten, bevor er zum Großen Weißen Tal geleitet worden war.
Gabriel fuhr mit den Fingern durch seine hellgoldenen Locken. Unbehagen zeichnete sich auf seinen makellosen Zügen ab. Er warf einen Blick über die Schulter auf Zadkiel, der ein gutes Stück hinter ihm ritt, mit Sandaldor an seiner Seite. Gabriel nickte.
Gemeinsam ritt der kleine Trupp durch das Östliche Tor, gut anderthalb Kilometer oberhalb der funkelnden Diamanten, mit denen der gewundene Pfad gepflastert war. Gabriel zügelte sein Ross, als sie zu Lucifers ausgedehnten Orangerien gelangten. Einst erfüllt von den leuchtenden Farben der Heliotrope und Lupinen, die sein ältester Bruder so geliebt hatte, lagen sie da, wie sie seit seiner Verbannung gewesen waren.
Verlassen. Verdorrt. Beinahe leblos.
Nichts blühte hier mehr, und doch gab es zugleich keine Fäulnis, keinen Verfall. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben. Als ob selbst die belebte Pflanzenwelt des Ersten Himmels Lucifers heimtückischen Verrat gespürt hätte und sich nun seit hundert Millionen Jahren weigerte zu wachsen.
Gabriel zog sanft an den Zügeln seiner Stute Ariel. Sie ritten weiter, vorbei an den ausgetrockneten Teichen der Sieben Weisheiten, und kamen direkt vor dem hoch aufragenden goldenen Tor zu Lucifers Gemächern im Ostflügel an.
Gabriel saß ab, woraufhin auch Zadkiel und Sandaldor von ihren Rössern stiegen. Zadkiel ging hinüber zu seinem Herrn und legte eine Hand sanft auf dessen Arm.
»Ihr seid sicher, dass dies Euer Wunsch ist, mein Fürst?«, fragte er.
Gabriel neigte das Haupt, dann hob er den Blick und sah Zadkiel an.
»Es ist mein Wunsch«, flüsterte er. Seine für gewöhnlich heiter blickenden Augen schwammen in Tränen.
Zadkiel sah den Fürsten einen Moment lang aufmerksam an, dann senkte er den Kopf. Er gab Sandaldor einen Wink, worauf dieser vortrat. Zadkiel nickte. Zusammen hoben sie ihre riesigen eisernen Axthämmer hoch, ließen sie auf die mächtigen Stahlketten niedersausen und sprengten die Bänder entzwei.
Langsam schob Zadkiel die schweren goldenen Türflügel auf, die zu Lucifers Palast führten. Gabriel nahm einen tiefen Atemzug und trat ein. Der Ostflügel lag unberührt.
Zadkiel folgte Gabriel in das Atrium. Eine lange Zeit standen sie beide schweigend beisammen.
»Das alles überfordert meinen Geist, Gabriel.« Zadkiel neigte das Haupt, und seine Hände zitterten, als die Vergangenheit wieder in sein Bewusstsein trat. »Es bringt die Erinnerung all dessen zurück, was meine Seele bedrückt.« Er wandte seinen gequälten Blick Gabriel zu. »Ich flehe Euch an, Gabriel.« Zadkiels Stimme bebte. »Lasst mich gehen.«
Gabriel bedachte Zadkiel mit einem Blick voller Mitgefühl. Schließlich hub er an zu sprechen.
»Geh nur, alter Freund«, seufzte er. »Kehre mit Sandaldor zu meinen Gemächern zurück. Wartet dort auf mich.«
Zadkiel verbeugte sich tief.
»Möget Ihr finden, wonach Ihr so inbrünstig sucht, mein verehrter Fürst«, murmelte er.
Er wandte sich ab und schickte sich an zu gehen.
»Zadkiel …«, rief Gabriel ihm nach. »Michael …« Er zögerte. »Mein Bruder weiß nicht, dass ich hier bin?«
Zadkiel drehte sich um und sah ihn an. »Er weiß nichts davon.«
Gabriel nickte. »Ich werde es ihm sagen, wenn ich dazu bereit bin. Und Jether?«
»Ich habe es Jether nicht erzählt.« Zadkiel lächelte leicht. »Aber er empfängt sein Wissen aus einer höheren Quelle.«
Zadkiel verneigte sich ein letztes Mal, schritt fort und schwang sich wieder auf sein Ross. Im Galopp ritt er, gefolgt von Sandaldor, den Weg hinab, den sie gekommen waren. Ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Gabriel ging zum großen Portal und sah den beiden von dort aus nach, bis sie ganz aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Dann ging er zurück in das Atrium und stieß die Türen zu Lucifers Gemach auf. Erst als er sie wieder hinter sich geschlossen hatte, sah er sich in der riesigen Kammer um.
Voll Staunen schüttelte er den Kopf.
Es sah alles fast genauso aus, wie es vor endlosen Zeiten gewesen war, ehe der
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