Sokops Rache
bis … lass mich überlegen …«
Henrys Herz setzt beinahe aus. Er fixiert Stroms glänzendes Gesicht, sieht ihm in die Schweinsäuglein.
»… na, bis vor vier, fünf Jahren gefahren. Dann hat er sich einen Neuwagen zugelegt. Gehen wohl gut, seine Geschäfte.«
Henry ist nun hellwach, seine Gedanken rasen. Es stimmt also. Dieser Oldenburg war ihnen auf die Schliche gekommen, hat sich damals in Berlin den Wagen zurückgeholt. Warum nur ist Henry an jenem Silvestermorgen zum Friseur und nicht gleich zum Gebrauchtwagenplatz gegangen? Er hat sich diese Frage in den letzten fünfzehn Jahren hunderte Male gestellt. Hätte das doch alles verändert, die Anordnung seiner Lebensbausteine, die Dynamik ihres Einsturzes. Egal wie es ausgegangen wäre, er hätte den doppelten Verlust – des Vaters und seiner Freiheit – verhindert, wäre er nur nicht beim Friseur gewesen. Er kennt diesen Oldenburg nicht persönlich, hat nur einmal mit ihm telefoniert, denn Oldenburg hatte sich den Wagen direkt in Berlin ansehen wollen, wo er ihn dann auch bei seinem Vater kaufte. Henry erinnert sich noch an die ungemütlich kalte Winternacht, in der er den 500er-SEL im Wismarer Dahlbergviertel gefunden, ihn mit Hilfe des Drittschlüssels, den sie immer behielten, gestohlen und zurücküberführt hat.
Er bestellt beim ziegenbärtigen Kellner eine weitere Runde und versucht, die für ihn wichtigen Fakten über Oldenburg, einen hiesigen Bauunternehmer, aus Stroms Wortschwall herauszufiltern. Es ist lange nach Mitternacht als sie – der eine ohne Pause faselnd, der andere stumm schwankend – über das feucht glänzende Kopfsteinpflaster des Marktplatzes nach Hause torkeln.
* * *
Die Pinne liegt ruhig und sicher in seiner Hand. Doch er ist sich bewusst, dass er ohne Wellers Kommandos und seine Erklärungen, was er tun soll, kaum heil im Hafen ankommen würde. Der Himmel über der Wismarbucht ist in der letzten halben Stunde von frühlingshaftem Hellblau in verhangenes Grau übergegangen. Skipper Weller hat ihre Rückkehr in den Hafen angeordnet. Beim dritten Termin mit dem Bewährungshelfer – den zweiten haben sie für eine Möbeleinkaufstour genutzt – hat Henry erfahren, dass der andere ein passionierter Segler ist, dessen Boot – die Ellen – im Wismarer Westhafen liegt. Ein Schicksalswink? Auch dieser Oldenburg soll seine Yacht im Sommer in einem der stadtnahen Hafenbecken liegen haben, hat Strom erwähnt. Es geht zu einfach , schießt es Henry durch den Kopf, als sie auf den Steg zusteuern. Er starrt hinüber zum Land, wo sich hinter den Kirchtürmen der Stadt düstere Wolken türmen. Weller – ein Mann der klaren Worte – ist ihm gegenüber vorsichtig, doch spürt Henry deutlich die Sympathie, die der andere ihm entgegenbringt. Er hat sie sogar in Worte gefasst.
»Glaub bloß nicht, dass ich mit all meinen Klienten segle. Wir sind hier nicht bei der sogenannten Erlebnispädagogik.«
Sie liegen bereits am Steg, da räuspert sich Weller. Er hat lange überlegt, ob er tatsächlich den Kontakt zwischen seinem Klienten und dieser Journalistin herstellen soll, die ihm auf eine diffuse Weise aus dem Gleichgewicht, ja beinahe ein wenig verdreht erschienen ist.
»Ich hab da noch etwas für dich.« Er nestelt durch die Schwimmweste hindurch in der Tasche seiner Windjacke. Das Boot dümpelt sachte in der Dünung, um sie herum werden Segel gerefft, Verdecks geschlossen, kurze Bemerkungen fliegen von Deck zu Deck. Weller gibt Henry den Brief, ermahnt sich selbst im Stillen, nicht so gluckenhaft mit seinen Jungs und Mädels umzugehen. Immerhin ist Henry Sokop alt genug zu entscheiden, mit wem er sich abgibt. »Da gibt es für dich anscheinend Klärungsbedarf. Doch dies ist eine Einbahnstraße. Ich fungiere für euch nicht als stiller Briefkasten.«
Henry wirft einen Blick auf den zartvioletten Umschlag. Henry Sokop steht da, in tintiger Schreibschrift. Er unterdrückt den Impuls, das Kuvert unbesehen in die Tasche zu stecken. Tue so, als würdest du Weller vertrauen. Also schlitzt er den Umschlag mit der Zeigefingerspitze auf, faltet das Blatt auseinander.
Hallo Henry,
willkommen in der Freiheit. Ich freue mich so für dich! Natürlich brauchst du jetzt alle Zeit für dich, musst deine Angelegenheiten regeln, so vieles bedenken und manches neu lernen.
Doch wenn du mich, meine Unterstützung brauchst, ruf mich einfach an. Ich arbeite weiter an meiner Reportage. Wenn es deine Zeit erlaubt, würde ich gerne weitere
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