Sokops Rache
sie hat es vorgezogen, mich – uns«, ergänzte er mit einem Zwinkern, das Henrys nicht recht zu deuten wusste – »zu verlassen. Sicher war ich an ihrer Entscheidung nicht unschuldig.« Er hatte einen Schluck getrunken und Henry hatte gemeint, es in seinen Augen glitzern zu sehen.
»Für dich tut es mir leid, Henry. Kinder sollten in einer richtigen Familie aufwachsen.« Jetzt hatte er doch tatsächlich nach der Hand seines Sohnes gegriffen und sie auf dem Tisch gedrückt gehalten, während er weitersprach und Henry den Atem anhielt. »Ich bin jetzt über sechzig, mein Herz ist nicht mehr in Ordnung. Wer weiß, wie lange es noch mitspielt. Ich möchte, dass du eines weißt: Auch wenn ich meine Gefühle nicht so zeigen kann, lebe ich doch nur für dich, meine Familie.«
Henry denkt gern an dieses Gespräch zurück, hegt es in seiner Erinnerung wie einen Schatz. Ein kostbarer, geheimer Moment des Einverständnisses und der wahren Begegnung.
So wenig er auch über seinen Vater weiß, meint er doch, dass der niemals so unvorsichtig gewesen wäre, sich von jemandem, mit dem er ernsthaft im Clinch lag, mit seiner eigenen Waffe bedrohen zu lassen. Nein, er muss völlig überrumpelt worden sein. Dafür kommt nur der Käufer dieses 500er-Mercedes in Frage. Der war ihnen vermutlich auf die Schliche gekommen und hatte seinen Vater in Berlin zur Rede gestellt. Weshalb sonst sollte der Wagen ausgerechnet am Todestag seines Vaters vom Firmengelände verschwunden sein? Verkauft worden war er definitiv nicht. Henry ist sich bewusst, wie dünn dieser Strohhalm ist, an den er sich klammert; doch diese Spur ist die einzige Chance, die er hat.
* * *
Der Schlauch hat sich kaum verändert. Die namensgebende Architektur ist dieselbe wie einst: schmal wie ein Handtuch, der Tresen unpraktisch die halbe lange Wand einnehmend. Über den fünfhundert Mal überlackierten, grob gezimmerten Tischen verströmen aus Metallschrott gebastelte Lampen diffuses Licht und an den Wänden zeigen gerahmte Fotos, welche Bluesmusiker hier irgendwann einmal auf der winzigen Bühne gespielt haben. Nur das separate Raucherabteil hinter Glas, ganz am Ende des langen Schlauchs , ist neu. Das Publikum ist im Großen und Ganzen vom selben Schlag wie früher. Biertrinkende, heute halt an ihren Handys knibbelnde Studenten, mittelalte Möchtegernrockstars mit Alkoholproblem, angeheiterte junge Mädels, dummgeschminkt und bauchfrei, die immer wieder schrill kichernd Blicke werfen.
Die beiden Gäste am Tisch vor dem großen Fenster zur Lübschen Straße gehören keiner der genannten Gruppen an. Wer sie beisammen sieht, könnte sich fragen, was so grundverschiedene Männer verbindet. Der eine groß, hager, still, mit silbergrauem Bürstenschnitt und eckiger Intellektuellenbrille, von unbestimmbarem Alter. Der andere klein, stämmig, gänzlich ohne Haupthaar und deutlich über fünfzig, gesprächig und mit grober Motorik. Eine Verwandtschaft, Freundschaft oder auch nur Kollegenschaft beider scheint unvorstellbar. Im Schlauch fallen sie allerdings niemandem auf. Schon immer war das Publikum in dieser Altstadtkneipe quer durch den Garten.
In der ersten Stunde scheint sich zu bewahrheiten, dass die beiden nichts verbindet. Steif köpfen sie ein Bier nach dem anderen und wissen kaum, über was sie sich unterhalten sollen. Mehrmals pendeln sie zwischen dem Raucherzimmer am Ende des Kneipenraums und ihrem Tisch hin und her, scheinbar froh darüber, dass ihnen das Rauchverbot Gelegenheit zur Bewegung verschafft. Nach dem dritten Bier taut die Stimmung zwischen ihnen auf, der Hagere beginnt, den anderen alles Mögliche über Wismar, die Bewohner und die Entwicklungen in den letzten Jahren zu fragen. Dabei bleibt seine Miene distanziert, seine Augen wirken leidenschaftslos, beinahe kalt. Der andere redet gern und wird noch lieber befragt, um dann Auskunft geben zu können. Der Preis, den Henry an diesem Abend für Informationen zahlt, ist Zuhörerschaft für garantiert pointenlose Geschichten aus Rainer Stroms ereignisarmen Leben, die der, ohne auf Resonanz zu achten und mit nervenzehrender Umständlichkeit, über seinem Gegenüber auskippt.
Beide sind deutlich angeheitert, da beginnt Henry, sich nach einzelnen Wagen zu erkundigen, bei denen Strom damals als Vermittler gewirkt hat.
»Na klar erinnere ich mich noch an den goldenen SEL 500. Das war doch ein Traumgeschoss. So etwas sieht man hier nicht alle Tage, weißt. Den hat der alte Oldenburg noch bestimmt
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