Sokops Rache
etwas zu ihrer Befreiung aus der Notlage beitragen zu können, wirft ihm die Heckleine zu, die Henry – diesmal ordnungsgemäß – vertäut. Seine Rechnung geht auf. Keine fünf Minuten später sitzt er an der Kaffeetafel im Heckschiff und wird mit Streuselkuchen gefüttert. Man stellt sich vor; Henry lässt Manieren und Charme spielen. Man tauscht Lebensdaten – Herkunft, Beruf, Wohnort. Seine Legende steht: Henry Brandt, Ex-Hamburger, aufgrund eines persönlichen Schicksalsschlags lange im Ausland gewesen, quasi auf der Flucht vor sich selbst, wie er vor Selbstreflexion triefend gesteht, von Beruf Betriebswirt, zurzeit in der Neuorientierungsphase, sprich auf Jobsuche, erst seit wenigen Wochen in Wismar – aus Liebe zu dieser schönen Stadt. Die Oldenburgs zeigen sich angetan.
»Und natürlich wegen des Wassers.« Henry umschließt mit großer Geste den gesamten Hafen. »Ohne Wassersport ist das Leben doch nur ein halbes.«
»Na, dann kommen Sie doch mal mit auf einen Törn.« Oldenburg schaut ihn unter seinen dunkel-geschwungenen Brauen fragend an, die in seltsamem Kontrast zu seinem von grauen Fäden durchzogenen Haar stehen.
»Das würde ich sehr gerne einmal. Eine so schöne Yacht bin ich noch nie gesegelt.« Henry streicht zärtlich über den Mahagonitisch, an dem sie sitzen, bemerkt den Blick, mit dem Nicole Oldenburg seine Hand verfolgt.
»Heute laufen wir allerdings nicht mehr aus. Ich muss heute Abend im Schützenverein den Vorturner machen.« Oldenburg blickt prüfend zu seiner Tochter. »Oder willst du …?«
Henry nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher.
»Du hast doch nichts vor heute, oder?«, setzt ihr Vater nach. Dann scheint ihm einzufallen, dass ein einsamer Törn mit einem bis eben unbekannten Mann für eine Frau nicht unbedingt klug ist. Nicole Oldenburg ist augenscheinlich hin und her gerissen. Henry ist sich ihres Interesses an ihm bewusst; er hat es mit sensiblen Bemerkungen und warmen Blicken, die immer einen Hauch zu lang auf ihrem Gesicht – nie tiefer – ruhen, geschürt. Die alte Masche, obwohl seit fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt, fällt ihm noch immer leicht. Er ist sofort wieder in der Rolle des Eroberers, gibt ihrer Phantasie Leine. Die Sekunden dehnen sich. Nicole – bisher ohnehin schon nicht geschwätzig – ist noch immer still. Papa Oldenburg beißt sich auf die Zunge, weiß auch nicht aus dieser Situation heraus. Henry steht auf, stellt sich an die Reling, schaut über das Mastenwirrwarr hinweg hinüber zur den mittelalterlichen Kirchtürmen der Altstadt. Das alles so einfach geht – unfassbar! Er würde gerne mit ihr segeln, freut sich über die rasanten Fortschritte seines Vorhabens. Außerdem ist sie eine attraktive Person, fast genauso groß wie er selbst, blond, gute Figur, glatte Haut für ihre bestimmt vierzig Jahre, volle Lippen, die Augen dunkel getuscht. Ihre Bewegungen wirken ebenso entspannt wie kraftvoll. Ihre Stimme hat einen dunklen Klang, fernab vom marternden Gequieke vieler anderer Frauen. Noch dazu ist sie intelligent und wirkt ein klein wenig oberflächlich. Genau die richtige Mischung für ein unkompliziertes Verhältnis, das noch dazu den Türöffner zum Leben ihres Vaters darstellen kann. Er sieht sich schon ein paar hübsche Dinge mit ihr tun, die er im Gefängnis sicher nicht verlernt hat.
Doch dann dreht er sich abrupt zu den Oldenburgs um.
»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Herr Oldenburg. Doch ich muss mich nun verabschieden, da ich noch einen Termin habe.« Er tippt auf seine Armbanduhr. »Es hat mich sehr gefreut, Ihnen behilflich sein zu können und, vor allem, ihrer beider Bekanntschaft zu machen.« Er drückt beiden die Hand – ihr ein wenig länger – und steigt, Krieg und Frieden in der Hand, hastig von Bord auf den Steg.
»Schauen Sie doch einmal wieder vorbei. Wir freuen uns über nette Gesellschaft.« Der überraschte Oldenburg schafft es gerade noch, ihm diese Worte nachzurufen, da erklimmt Henry schon die Kaimauer und läuft in Richtung Stadt.
Er hat die Person, die dort vorn an der Kaikante des Hafenbeckens entlangschlendert und dabei die Boote und ihre Besatzungen mustert, sofort erkannt. Kurz überlegt er jetzt, ob er es schaffen kann, unbemerkt an ihr vorbeizukommen. Keine Chance, die ist nicht zufällig hier. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht locker lassen würde.
»Henry.«
»Sonja.«
Rote Flecken breiten sich auf ihrem Gesicht und dem Hals aus. Sie schütteln sich die Hände. So
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