Sokops Rache
ein Schwarzweißfoto, auf dem vier junge Soldaten nebeneinander eine geteerte Straße vor einem Kasernengebäude entlanggehen und anscheinend angeregt miteinander reden, ohne den Fotografen wahrzunehmen. Sie tragen schwere Stiefel, graue Uniformen, Käppis und alberne weiße Halstücher, über der linken oberen Taschenklappe eine runde Medaille. Derjenige, auf den Nicole zeigt, ist der Einzige, dem durch die Kostümierung nicht seine persönliche Ausstrahlung abhanden gekommen ist. Aus seiner Haltung spricht so etwas wie lässige Eleganz. Er ist groß und augenscheinlich blond, deutlich schlanker als die anderen, beinahe schlaksig, hat das Halstuch – sicherlich unvorschriftsmäßig – nicht wie ein Kind um den Hals geknotet, sondern wie ein Handtuch beim Saunagang lässig über beide Schultern gelegt und mit einem winzigen, vorwitzigen Knoten an den Enden zusammengeknüpft. Sein Profil – er schaut gerade seinen Nebenmann mit einem nicht unfreundlichen, aber indifferenten Ausdruck an und gestikuliert mit der nach oben geöffneten rechten Hand – ist klar, die Koteletten schmal; seine Bewegungen erscheinen leger, nicht so verkrampft wie die seiner Kumpane. Anders gekleidet, könnte er heute als Model durchgehen.
»Der ist ja blond.«
»Ja und?«
»Hat sich dein Geschmack verändert oder bin ich ein Fehlgriff?« Er kneift ihr neckend in den großen Zeh und sie protestiert.
»Sei bloß nicht eifersüchtig auf den.« Sie wölbt die Unterlippe zu einer Schnute. »Er ist sieben Jahre älter als ich und ich habe ihn damals, seit ich zwölf war, angehimmelt. Allerdings meist aus der Ferne – er lebte ja in Dresden. Als ich dann 1985 wieder im Sommerurlaub dort war, hat er mir, im Hinterhof des Restaurants, in dem die ganze Familie Opas Pensionierung feierte, gesagt, dass er schwul sei. Einfach so, in mein blödes Teenagergesicht. Nachdem ich ihm meine Liebe gestanden habe! Du kannst dir vorstellen, ich habe mich gefühlt, als sei ich frontal gegen eine Wand gelaufen. Ich war doch erst fünfzehn und er meine große Liebe. Ich habe drei Tage lang im Bett gelegen, mir die Augen aus dem Kopf geheult und meine Oma dachte schon, mir hätte jemand was angetan. Na, hatte er ja auch. Aber nicht das, was sie befürchtete. Und weißt du, was das Bekloppteste war? Er ist gar nicht homosexuell. Das habe ich aber erst viel später begriffen.«
Sie schüttelt über ihre eigene Naivität den Kopf, blättert um, vertieft sich in die nächsten Bilder. »Und hier: mein erstes eigenes Auto. Stell dir das mal vor!« Henry beugt sich zu ihr und erkennt einen silbernen Audi 200.
»Wow. Lass mich raten: 5-Zylinder-Einspritzer mit 136 PS, Baujahr 1979 oder 80.«
Nicole sieht ihn erstaunt an. »Was du alles weißt. Aber es war sogar das 170-PS-Modell mit Turbolader. Mein lieber Papa wollte ihn mir eigentlich gar nicht überlassen, obwohl er sich gerade seinen ersten Mercedes zugelegt hatte. Immerhin war ich Fahranfängerin. Aber ich wusste schon immer, wie ich ihn umstimmen kann.« Sie lächelt in sich hinein. »Du glaubst nicht, was das für ein Gefühl war, mit 200 Sachen über die Autobahn zu brausen. Ich war eine Weile lang richtig autoverrückt. Ach, eigentlich bin ich das wohl noch immer. Damals bin ich auf den Geschmack an schnellen Wagen gekommen.«
Henry hört ihr nicht weiter zu, ist mit seinen Gedanken ganz bei dem gerade erwähnten Mercedes. Schnell rechnet er nach: Sie ist 1971 geboren, hat bestimmt so um die Wendejahre ihren Führerschein gemacht. Ihm wird plötzlich sehr warm und er stürzt den Champagner hinunter. Nicole plappert weiter.
»Von 0 auf 100 in 8,6 Sekunden. Alle wollten mitfahren. Ich kam mir eine Weile lang vor wie ein Taxi.«
»Hattest du keine Angst, als Führerscheinneuling gleich so ein hoch motorisiertes Fahrzeug zu lenken? Wie alt warst du denn, als du den Wagen geschenkt bekommen hast?«
»Ach was. Angst, einen Unfall zu bauen, hatte ich nie, bin gleich von Anfang an viel gefahren. Lass mich überlegen, ich war 21. Papa hat mir den Audi im Dezember zu Weihnachten und zum Geburtstag zugleich geschenkt, obwohl ihm sein neuer Mercedes damals gerade gestohlen worden war. Er war fuchsteufelswild deswegen, hat sich über die Polizei aufgeregt, die ihm wenig Chancen ausgerechnet hat, den Wagen wiederzubekommen. Ich habe zu der Zeit in Leipzig studiert und war über die Feiertage in Wismar. Als Papa an Silvester geschäftlich nach Berlin musste, habe ich ihm angeboten, ihn zu fahren. Aber davon wollte er
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