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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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er mit jedem Bier nachdenklicher.
    Kann er sich je sicher sein, den Richtigen gefunden zu haben? Paetow scheidet tatsächlich aus – nicht nur wegen seiner Hautkrankheit. Vor ein paar Tagen hat der Wikinger ihn gebeten, ihn nach Hause zu fahren, weil sein Wagen in der Werkstatt war. Auf der Suche nach Zigaretten, hat er dann die  Sig Sauer  im Handschuhfach entdeckt.
    »Alter, Wahnsinn Mann. Du hast ’ne Knarre?!« Völlig hingerissen hat er Henry zu gemeinsamen Schießübungen in einem Waldstück in der Nähe des Flugplatzes Müggenburg überredet. Henry ist sich inzwischen sicher, dass die erstaunliche Naivität, die der andere manchmal an den Tag legt, nicht gespielt ist, um sein Gegenüber in Sicherheit zu wiegen. Nein, Paetow ist – bei aller Abgebrühtheit – wirklich ein Kindskopf. Also hat er ihm dort, mitten im Wald, die Waffe überlassen und war sich nach wenigen Minuten sicher, dass der Wikinger noch niemals zuvor eine Pistole in der Hand gehalten hatte.
    Nun deutet wirklich alles auf Oldenburg. Doch wie soll Henry sich sicher sein? Ein Restzweifel, Unsicherheit, eventuell den Falschen getötet zu haben, wird immer da sein. Mit einem Mal ist er sich der Notwendigkeit und Legitimität seiner Rache nicht mehr sicher. Während sich der  Schlauch  füllt, um ihn herum Stimmen und Gelächter branden, versucht er, diese fatale Indifferenz mit den Bildern seines toten Vaters und mit Erinnerungsfetzen aus seinem das Fleisch von den Knochen schälenden Haftalltag zu vertreiben.
    Wo ist nur seine kalte Souveränität geblieben? Macht ihn seine Liebe zu Nicole zu einem unentschlossenen, durch sein drittes Leben trudelnden Versager? Zu dem, was er eigentlich schon immer war? Er kippt ein weiteres Bier in sich hinein, genießt die Blödigkeit, die sich durch den Alkohol in seinem Geist ausbreitet.
    Soll er der kleinbürgerlichen Sehnsucht, die diese Frau in ihm nährt, nachgeben, das Ziel, auf das er fünfzehn Jahre lang hingearbeitet hat, durch sie verdrängen lassen? Ist er – nur weil er in Nicoles Gegenwart dahinschmilzt wie Butter in der Sonne – zu einem weichgespülten Hampelmann geworden? Im Raucherraum der Kneipe spürt er seinem Racheimpuls nach, erlebt im Geiste noch einmal, wieder einmal, Trauer, Erniedrigungen, Verlust und verhärtet sich.
    Nein, Oldenburg muss sterben! Was er danach mit dessen Tochter anfängt, ist erst einmal belanglos.
    Es ist fast zwölf, als er die Treppen des  Schlauchs  hinunter auf die Straße stolpert, dessen laute, pulsierende Dampfbadatmosphäre hinter sich lässt und in der Jackentasche nach seinem Tabak kramt. Auf der kleinen Bühne direkt vor dem großen Fenster geben sich die Musiker noch immer alle Mühe, das Publikum zum Kochen zu bringen. In seinen Ohren dröhnt es. Nur allmählich gewöhnt er sich an die Stille hier draußen. Der Alkohol tickt in seinen Ohren. Die Luft legt sich feucht und schwer auf seine Brust. Die Zigarette ist fertig – er dreht auch im benebelten Zustand noch wie im Schlaf – und er läuft los: in seine Wohnung oder in eine andere Kneipe, egal wohin. Er treibt durch die Nacht, wie er durch sein Leben treibt. Ein milder Hauch Seeluft fegt durch die Straßen. Vom Marktplatz her tönt das Scheppern einer Dose auf dem Pflaster, dazu Anfeuerungsrufe und Lachen.
    Vor dem Karstadthaus stoppt er abrupt und hebt den Blick. Dieses meckernde Lachen kennt er.
    »Henry Sokop.« Als wäre es eine Beschwörung, wiederholt die Gestalt auf der Straßenbank seinen Namen. »Henry Sokop.«
    Der  GEIST! Henry wirft die Zigarette fort. Das Haar des anderen wabert dünn und grau auf seine Schultern herab, Spinnwebfussel, die seinen Bleckbiss garnieren. Neben ihm auf der Bank eine fast leere Weinflasche.
    »Henry, Henry.« Das Lachen schüttelt den aufgeblasen wirkenden Oberkörper.
    Was findet der Kerl so komisch? Henry geht weiter, versucht, seine Schritte weniger trunken aussehen zu lassen, als er ist.
    »Bleib hier, Henry.«
    Der andere betont seinen Vornamen zugleich beschwörend und fragend. Henry beißt sich auf die Lippe. Er kennt den Grauhaarigen nicht, will ihn auch gar nicht kennen. Stur starrt er geradeaus, setzt einen Fuß vor den anderen.
    »Grüß deinen Vater von mir.«
    Er zuckt zusammen, beschleunigt seinen Schritt, lässt den GEIST, der haltlos kichert, hinter sich. Sein Nacken ist verspannt, als erwarte er jede Sekunde einen Schlag, das Eindringen einer Kugel im Rücken. Er biegt rechts in die Hegede, läuft hoch zur Dankwartstraße,

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