Sokops Rache
Plötzlich schaut Volker wie ein beim Auf-den-Teppich-Pinkeln ertappter Pinscher. »Ich habe das Ganze auch nur durch Zufall erfahren und werde mich hüten, daraus eine Story zu machen. Dafür werde ich nicht bezahlt und außerdem – so läuft das nun mal. Schmieren und geschmiert werden. Das hat nicht erst der Kapitalismus erfunden.«
Sonja schüttelt verärgert den Kopf. »Aber das sind doch illegale Praktiken.«
»Na und? Solange die Häuser, die Herr O. baut, nicht zusammenkrachen, ist mir das völlig wurscht. Und das sollte es dir auch sein.« Er tunkt die letzten Pommes frites in die Saucenpfütze und verschlingt sie mit einem Bissen. »Noch einen?« Er deutet auf ihre Tasse und sie nickt. Während er versucht, die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf sich zu lenken, spricht er weiter. »Und noch eins: Komm bloß nicht auf die Idee, in dem betreffenden Etablissement zu recherchieren. Der Gerdi – das ist dort der Geschäftsführer – versteht in der Hinsicht keinen Spaß. Der lässt auch Frauen zusammenschlagen, manchmal denke ich sogar, die besonders gerne.«
»Woher kennst du diesen Gerdi eigentlich?« Sie juckt es, ihn zu brüskieren, seine selbstgerechte Haltung ins Wanken zu bringen.
»Schon wieder nicht aufgepasst in der Journalistenschule?« Er grinst überheblich. »Schütze deine Quellen, heißt das Gebot. Und nun: Was machen wir beide mit dem angebrochenen Tag? Ich muss noch raus nach Schwaan, da startet heute so ein Westernreitturnier. Kommst du mit?«
Sein Dackelblick verursacht ihr eine Gänsehaut. Was für ein Trampel! Kein Vergleich zu Henry, dessen feine, zurückgenommene Art so wohltuend ist.
»Danke für das Angebot, Volker, aber ich habe eine Pferdeallergie«.
* * *
»Und das, das sind meine Großeltern.« Nicole tippt mit dem makellos manikürten Nagel ihres Zeigefingers auf die Schwarzweißaufnahme mit dem Sägezahnrand. »Oma und Opa Dresden.« Sie dreht sich auf den Rücken, kichert und meint: »Ich habe damals reichlich antizyklisch gelebt. Während andere Kinder im Sommer an die Ostsee geschickt wurden, habe ich die Schulferien in Sachsen verbracht. Hoch am Elbhang – du weißt, diese ganze Tellkamp-Mischpoke.«
Henry hat keine Ahnung, was sie meint. Sie liegen in Nicoles Wohnraum auf dem hochflorigen weißen Wollteppich vor dem Kamin, in dem die Scheite knistern. Er schnuppert an ihrem Blondhaar, riecht einen Hauch des Parfüms, das er ihr geschenkt hat, daneben eine Note Kirschholzrauch und etwas Herb-Salziges: das Relikt ihres gemeinsamen Sex.
»War’s so schlimm?«, brummt er in ihr Ohr, bedeckt es mit Küssen. Er könnte stundenlang ihren Erzählungen lauschen, eingelullt in Familiengeschichten, die nicht seine sind, die er genießen kann wie einen Film oder die Handlung eines Romans. Die ihn wärmen, aber keine Konsequenzen für ihn haben. Draußen zerrt schon seit einigen Stunden ein ungewöhnlich heftiger Wind an den Ästen im Oldenburgschen Garten. Die metallenen Röhren des Windspiels, das unter dem Vordach des Gartenpavillons baumelt, klingeln ohne Pause, senden ihre leise Melodie durch das geschlossene Terrassenfenster herein. Seit dem Morgen droht es zu regnen, doch bisher ist kein Tropfen gefallen.
»Ach was, schön war’s. Ich war die Prinzessin für meine Großeltern. Denen war egal, dass ihre einzige Tochter nur einen Handwerker geheiratet hatte. Da standen die drüber; die Ehe hat ja sowieso nicht lange gehalten. Als ich zehn war, ist meine Mutter, die Teilchenphysikerin ist, nach Dubna gegangen. Das ist eine Kleinstadt nordwestlich von Moskau. Da hat die DDR damals zehn Prozent des Budgets des Vereinigten Institut für Kernforschung der sozialistischen Länder finanziert. Dubna war für meine Mutter die Chance, vor ihrem Ehemann und der spießigen, unintellektuellen Familienfalle zu fliehen und beruflich weiterzukommen. Den Aufenthalt am VIK Dubna nannte man Delegierung. Dort wurde man wie die sowjetischen Wissenschaftler bezahlt, während zu Hause das halbe Gehalt weiterlief. Später erhielt sie eine Delegierung in den Westen, in die Schweiz. Es gab ein Gesetz, dass man bis zu einem Jahr ohne Familie und bei Aufenthalten über einem Jahr mit Familie zu fahren hatte. Da man aber nur Kinder bis zu zehn Jahren mitnehmen konnte, stellte sich die Frage überhaupt nicht, ob ich mit ihr gehen oder bei Papa bleiben würde. Sie ist noch heute dort. Ziemlich erfolgreich.« Sie rollt sich wieder auf den Bauch und blättert die nächste Seite des Albums auf.
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