Sokops Rache
»Ha, hier, mein Hund Tolstoi.« Ein kleines wolliges Etwas, schwarz und weiß gefleckt, hockt unter einer an einem Obstbaum befestigten Schaukel, einen Ball zwischen den Vorderpfoten.
»Wieso Tolstoi?« Viel lieber würde er erfahren, wie es ihr gelungen ist, den Verlust der Mutter zu verkraften. Doch dieses Eis ist ihm zu dünn. Zu sehr ähnelt ihre Geschichte der seinen. Eine solche Parallelität gefährdet sein mühsam aufrechterhaltenes Gleichgewicht, rüttelt an der Maske des sturmerprobten Abenteurers, fordert eine größere Offenheit, als es für seinen Plan hilfreich ist. Vielleicht kommt einmal die Zeit der völligen Aufrichtigkeit zwischen ihnen – nein, das kann er nicht erträumen. Ihre Beziehung ist erfüllend, er genießt das Zusammensein mit ihr, spürt jedoch bei jedem Atemzug, dass der Grund für sein Hiersein ein anderer ist. Es tut ihm weh, sie auszunutzen; je länger er sie kennt, je näher sie ihn an sich heranlässt, sich ihm öffnet, desto mehr wünscht er, sie wäre nicht die Tochter ihres Vaters, sondern irgendeine Frau, die er in der Stadt, in einem Café oder Supermarkt kennen gelernt hat.
»Ach, das entstammt so einem Familienscherz. Warte mal, ja, das hatte irgendetwas mit seiner Fressgier zu tun.« Sie zieht die Stirn kraus, wirkt plötzlich wie ein junges Mädchen. »Ich hab’s. Es gibt da so ein Tolstoizitat: Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann. Das hat meine Oma immer zitiert, wenn ihr der Köter um die Beine sprang, während sie in der Küche etwas zu essen zubereitete. Eigentlich hieß er Strolch.« Sie blickt ihn von der Seite her an. »Hattest du auch mal einen Hund? Oder ein anderes Haustier?«
»Nur einen Nachbarsdackel. Und selbst der wollte sich nicht von mir Gassi führen lassen.« Sie prustet vor Lachen.
»Ich habe wohl kein Talent für Haustiere. Aber ich füttere gerne Vögel, beobachte sie, spreche mit ihnen. Manche antworten sogar.« Er überzieht bewusst, kehrt es in Lächerliche, um sich gegen die Erinnerungen an seine treuen Besucher am Zellenfenster zu wappnen.
»Dann lass uns doch mal zusammen Tauben vergiften gehen.« Sie piekt ihn in die Rippen, kichert. Er starrt sie verständnislos an.
»Das ist so ein alter Schlager. Irgendetwas wie Lass uns Tauben vergiften im Park. Keine Ahnung.« Sie bricht ab, sieht, wie ernst er ist. »Das war nur Spaß, Henry. Glaubst du wirklich, ich würde einem Lebewesen etwas zuleide tun? Ich kann nicht einmal Spinnen töten, trage sie immer, wenn ich eine im Haus finde, nach draußen.«
Er dreht sich auf den Rücken, zieht ihren warmen, duftenden Körper über sich, verschließt ihren Mund mit seinen Lippen. An seinem Ohr raschelt das Seidenpapier der Albumtrennseite, als ihre Bewegungen wilder werden, sie ihn anfasst, er schließlich in ihr versinkt.
Henry wacht auf. Draußen dämmert es. Er ist allein, das Kaminfeuer ist zu einem grau überkrusteten, nur noch matt glimmenden Haufen heruntergebrannt. Regentropfen klickern an die Fensterscheibe, ihn fröstelt. Hinter der Tür zum Flur klirrt etwas und er richtet sich zum Sitzen auf, greift nach seinem Hemd, das über der Armlehne des Sofas hängt. Der alte Oldenburg hat zwar angekündigt, über Nacht bei einem Freund in Neubrandenburg zu bleiben, aber vielleicht hat er es sich ja anders überlegt. Die Tür öffnet sich und er entspannt sich, als er Nicoles delikates Hinterteil – in einem Nichts von Slip unter einem viel zu kurzen schwarzen Kimono mit Drachenmuster – sieht, mit dem voran sie das Zimmer betritt. Sie bugsiert einen silbernen Servierwagen über die Schwelle und dreht sich dann strahlend und mit weit aufklaffendem Kimono zu ihm um.
»Voilà!«
Sie sind für ihr Picknick – wie Nicole den luxuriösen Imbiss aus Kaviar, kleinen, noch warmen Gebäckteilchen, frischen Erdbeeren und Champagner nennt – auf das geräumige, rechtwinklige und mit goldfarbenem Stoff bezogene Sofa umgezogen, das Werbetexter sicher als Wohnlandschaft bezeichnen würden. Nun, nachdem der erste Hunger gestillt ist, lehnen sie in den beiden Sofaecken, die Füße verschränkt und zwischen den Fingern Sektkelche, als Nicole aufspringt und das Fotoalbum vom Teppich holt.
»Jetzt zeige ich dir den ersten Mann, in den ich verliebt war.« Sie setzt sich im Schneidersitz neben Henry, den großen, schweren Kunstlederband mit der Goldprägung auf dem Schoß, schlägt ihn auf und findet die gesuchte Seite. »Hier, das ist er, Rolf Galinski, mein Cousin.« Sie deutet auf
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